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ZurückAm 1. Juli 2024 übernahm Ungarn den EU-Ratsvorsitz für das kommende Halbjahr. Das EU-Parlament hatte zuvor in Frage gestellt, ob die ungarische Regierung diese Aufgabe zuverlässig erfüllen kann. Denn nun hat erstmals in der Geschichte ein Land den Ratsvorsitz inne, gegen das ein Verfahren wegen Verstößen gegen Grundwerte der EU wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (Artikel 7 - Verfahren) anhängig ist.
Der ungarische Ratsvorsitz fällt zeitlich mit der Neuaufstellung des EU-Parlaments und der EU-Kommission nach den Europawahlen zusammen. In dieser Phase des Übergangs kommt dem Ratsvorsitz im Hinblick auf die laufenden Verhandlungen zu offenen Legislativdossiers eine verwaltende Rolle zu: Unter belgischem Vorsitz wurden gegen Ende der vergangenen EU-Legislaturperiode viele Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen; von der EU-Kommission sind in den kommenden Monaten kaum neue Vorschläge zu erwarten. Die ungarische Regierung kann den Ratsvorsitz jedoch insbesondere für strategische Schwerpunktsetzung nutzen.
Make Europe Great Again?
Das Motto der ungarischen EU-Präsidentschaft ist eine Anspielung auf die Parole des ehemaligen US-Präsidenten und aktuellen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, dem der ungarische Premierminister Viktor Orbán politisch nahesteht. Das EU-Parlament hat festgehalten, dass Ungarn keine Demokratie, sondern eine „Wahlautokratie“ ist und hat bereits vorab die Zuverlässigkeit der ungarischen Regierung im Hinblick auf den Ratsvorsitz in Frage gestellt.
Gleich zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft reiste Viktor Orbán innerhalb rund einer Woche nach Kiew, Moskau, Peking und Washington und thematisierte dabei den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel sah sich veranlasst, auf X (Twitter) klarzustellen, dass die turnusmäßig wechselnde EU-Ratspräsidentschaft in diesem Kontext kein Mandat hat, für die EU zu sprechen. Die (mittlerweile für eine zweite Amtszeit bestätigte) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verurteile die Reise in ihrer Rede im EU-Parlament, ebenso wie das EU-Parlament selbst.
Die Prioritäten des ungarischen Ratsvorsitzes
Die Wettbewerbsfähigkeit der EU, insbesondere gegenüber den USA und China, ist derzeit in aller Munde. Sie ist unter anderem eine von drei Säulen der Strategischen Agenda 2024 – 2029, die der Europäische Rat kürzlich verabschiedet hat. Als erste von sieben Prioritäten findet sich im Programm der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft nun ein „Neuer Europäischer Competitiveness Deal“, der in den kommenden Monaten verabschiedet werden soll. Die möglichen Auswirkungen für Arbeitnehmer:innen dieser neuen Ausrichtung der EU auf Wettbewerbsfähigkeit werden noch eingehend zu analysieren sein. Dies nicht zuletzt anhand des angekündigten Berichts, mit dessen Erstellung der ehemalige italienische Premierminister Mario Draghi von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beauftragt wurde.
Neben dem Draghi-Bericht wird auch der bereits im April vorgestellte Bericht von Enrico Letta, der ebenso italienischer Premierminister war, eine wichtige Rolle spielen. Dieser schlägt unter dem Titel „Weit mehr als ein Markt“ eine Reihe von Maßnahmen zur Vertiefung des Binnenmarktes vor, wie zum Beispiel eine Forcierung der Kapitalmarktunion und eine Reduzierung der Verwaltungslasten für Unternehmen. Die AK steht kritisch zu den Vorschlägen, zumal ein massiver Druck auf Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards zu erwarten ist. Auf Basis der Berichte von Draghi und Letta soll eine neue horizontale Binnenmarktstrategie der EU-Kommission entwickelt werden. Unter dem ungarischen Ratsvorsitz werden außerdem erstmals die neuen Regeln zur wirtschaftspolitischen Steuerung zur Anwendung kommen und die dabei vorgesehenen finanzpolitischen nationalen Pläne zu erstellen sein.
Weitere Prioritäten des ungarischen Ratsvorsitzes sind: die Stärkung der Europäischen Verteidigungspolitik, eine konsistente und leistungsbasierte Erweiterungspolitik, Kampf gegen illegale Migration, Zukunft der Kohäsionspolitik, eine EU-Landwirtschaftspolitik im Sinne der Landwirt:innen, und Antworten auf den demografischen Wandel.
Offene Legislativdossiers
Zu den wichtigen offenen Legislativdossiers, die unter ungarischem Ratsvorsitz weiterverhandelt werden, zählt unter anderem die Praktika-Richtline. Zur Änderung der Richtlinie über Europäische Betriebsräte hat der Rat bereits eine Allgemeine Ausrichtung erzielt, es wird der Beginn der Trilog-Verhandlungen erwartet.
Im Umweltbereich sollen u.a. die Triloge zur Green-Claims-Richtline und zur Überarbeitung der Abfallrahmenrichtlinie aufgenommen werden. Bei der Neuen Gentechnik (NGT) sollen die Beratungen auf Expert:innenebene wieder aufgenommen werden, nachdem unter belgischem Vorsitz keine Einigung erzielt werden konnte.
Im Verkehrsbereich ist die Aufnahme von Trilog-Verhandlungen zur Verordnung über die Erfassung der Emissionen von Verkehrsdienstleistungen (CountEmissionsEU) und zur vorgeschlagenen Richtlinie über den kombinierten Verkehr die Annahme einer Allgemeinen Ausrichtung vorgesehen. Und im Bereich Finanzdienstleistungen werden ab Herbst Trilog-Verhandlungen zur Strategie für Kleinanleger:innen erwartet, während im Rat die Arbeiten zum Digitalen Euro und zum Rahmen für den Zugang zu Finanzdaten fortgeführt werden. Ungarische Regierungsvertreter:innen haben versprochen, die Aufgabe der EU-Ratspräsidentschaft als „ehrliche Makler“ wahrzunehmen, wie dies den allgemeinen Gepflogenheiten entspricht. Es bleibt abzuwarten, ob das Versprechen eingelöst wird.
Solidarische Arbeitnehmer:innenperspektive
Unter den gegebenen schwierigen Voraussetzungen der ungarischen Ratspräsidentschaft ist die solidarische Zusammenarbeit von Gewerkschaften über Ländergrenzen hinweg umso wichtiger. Sowohl der ÖGB als auch ungarische Gewerkschaften sind nicht nur im Europäischen Gewerkschaftsbund, sondern auch im neu gegründeten zentraleuropäischen Gewerkschaftsnetzwerk CETUN vertreten und entwickeln dort gemeinsame Positionen.
Weiterführende Informationen
Offizielle Website der ungarischen Präsidentschaft
EU-Parlament: Timeline nach der Wahl (nur Englisch)
ÖGB: „Make Europe Great Again” - Was die ungarische Ratspräsidentschaft (nicht) bringen wird
ÖGB: Central European Trade Union Netword (CETUN)