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ZurückDie EU sieht sich unter anderem wegen des grünen und digitalen Übergangs einem großen Finanzierungsbedarf gegenüber. Gerade Zukunftsinvestitionen sind oft mit erhöhtem Risiko verbunden. Hier soll die Vertiefung der Kapitalmarktunion bzw. eine Spar- und Investitionsunion Abhilfe schaffen. Doch wie soll diese gestaltet werden, damit sie die Erwartungen erfüllt und allen zugutekommt? Wo liegen Grenzen und Risiken? Dies wurde bei einer Veranstaltung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses diskutiert. Klar ist, dass selbst eine „vollendete“ Kapitalmarktunion niemals ein Ersatz für die nun notwendigen öffentlichen Investitionen sein kann.
Gut funktionierende Kapitalmärkte werden als Basis für eine gut funktionierende Gesamtwirtschaft betrachtet. Die Kapitalmarktunion (Capital Markets Union, CMU) wurde von der EU-Kommission 2014 als Initiative zur Schaffung eines Binnenmarktes für Kapital ins Leben gerufen. Die Vertiefung der CMU ist seither ein fortlaufender Prozess, der eine beträchtliche Anzahl an Legislativ- und Nichtlegislativmaßnahmen umfasst. Die Initiativen der CMU-Aktionspläne 2015 und 2020 beziehen sich zum Beispiel auf die Förderung grenzüberschreitender Investitionen, Veranlagungsprodukte, die Marktinfrastruktur, Nachhaltigkeit im Finanzwesen oder die Gestaltung der Finanzmarktaufsicht. Im Zuge einer Bestandsaufnahme im Jahr 2017 kam die EU-Kommission zum Schluss, dass zwar vieles erreicht wurde, aber noch eine Reihe weiterer Maßnahmen erforderlich ist. Dies wird auch in der Erklärung zur Zukunft der Kapitalmarktunion der Euro-Gruppe im inklusiven Format vom März 2024 so gesehen. Sie fordert die EU-Kommission auf, erneut tätig zu werden, und richtet sich an die Mitgliedstaaten, sodass diese die beschlossenen Rechtsakte umsetzen. Darüber hinaus gibt es auch ein Papier mit 20 Empfehlungen seitens der EU Wertpapier- und Markaufsichtsbehörde ESMA.
Kapitalmarktunion. Die neue alte Priorität der EU-Politik
Die CMU ist nicht zuletzt aufgrund des enormen Investitionsbedarfs der EU ein Schlüsselthema der aktuellen EU-Wirtschaftspolitik. In seinen Schlussfolgerungen bekräftigt der Europäische Rat Ende Juni „(…) die Dringlichkeit und Bedeutung der Kapitalmarktunion, wenn es darum geht, die erheblichen privaten Investitionen zu mobilisieren, die zur Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen erforderlich sind.“ Bereits im April 2024 wurde im Letta-Bericht mit dem Titel „Much more than a market“ ein Kapitel der Schaffung einer Spar- und Investitionsunion gewidmet. Dazu der ehemalige Ministerpräsident Italiens, Enrico Letta: „Wenn wir keinen Weg finden, private Gelder zur Finanzierung des grünen Übergangs und unserer Sicherheitsbedürfnisse einzusetzen, wird es sehr kompliziert sein, eine Lösung zu finden, die nur auf öffentlichen Geldern basiert.“ Der Letta-Bericht schlägt erneut vielerlei Initiativen vor, wie zum Beispiel ein EU-weites Langzeitsparprodukt im Rahmen der persönlichen Altersvorsorge, die Anpassung der Regulierung großer Versicherungsgruppen zur Mobilisierung von Kapital, ein EU-weites Garantie-System zur Unterstützung von Banken bei der Finanzierung grüner Investitionen, die neuerliche Überarbeitung der Regulierung von Verbriefungen, die Förderung einer umfassenden Finanzmarktaufsicht, steuerliche Anreize bei Veranlagungen, die Schaffung eines sicheren gemeinsamen Vermögenswerts (EU Safe-Asset) und die Umsetzung des digitalen Euro.
Kapitalmarktunion aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet
Am 27. Juni 2024 fand im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) eine Veranstaltung zum Thema „Von der Kapitalmarktunion zur Spar- und Investitionsunion“ statt. Die Sprecher:innen betrachteten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Es wurde aufgezeigt, dass die Marktkapitalisierung der börsennotierten Unternehmen in den USA fünf Mal so hoch sei wie in der EU, was aber vor allem an den fünf bis sieben größten Unternehmen liege. Vor allem seitens der Finanzakteure wurde gefordert, dass im Fokus der Spar- und Investitionsunion die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Finanzindustrie stehen solle.
Unternehmen, die Innovation und Wachstum bringen würden, können oft nicht genügend Vermögenswerte und Sicherheiten aufweisen, um Bankkredite zu bekommen. Wie weit dies jedoch über eine „vollendete“ CMU ausgeglichen werden könne, wurde in Frage gestellt. Die Schritte der EU, um den Zugang zu Daten und Informationen über die Nachhaltigkeit zu verbessern, seien zwar eine wichtige Voraussetzung, um Zukunftsinvestitionen zu fördern. Gerade weil hier aber oft ein erhöhtes Risiko bestehe, brauche es entsprechende Renditen, um private Gelder anzuziehen. Diese seien oft nicht gegeben. Durch Maßnahmen zur Vertiefung der CMU könnten zwar zusätzlich 300 bis 600 Milliarden Euro pro Jahr lukriert werden. Dem würde jedoch jährlich ein Finanzierungsbedarf von 800 Milliarden bis 1,6 Billionen Euro im Klimabereich und von mehreren hundert Milliarden Euro im Bereich strategischer Investitionen und der Verteidigung gegenüberstehen.
Bei der weiteren Vertiefung der CMU müsse man sich nun Bereichen widmen, die die Eigeninteressen der Staaten und nationale Rechtssysteme betreffen. Zum Beispiel sei eine Bündelung der Aufsicht auf EU-Ebene immer schwierig gewesen, da es um die Übertragung von Souveränität gehe, ebenso wie eine gemeinsame Schuldenaufnahme. Weiters wurde gefordert, dass es keine Harmonisierung der Kapitalmarktregulierung nach unten geben dürfe. Der soziale Dialog müsse mitgedacht werden, damit die CMU allen zugutekommt und gute Arbeit geschaffen werde.
AK sieht Vorschläge zur Vertiefung der Kapitalmarktunion kritisch
Im Hochtechnologiebereich können maßgeschneiderte Finanzierungsformen gefragt sein und eine Zentralisierung und Harmonisierung der Kapitalmärkte erscheint dort sinnvoll. Diese muss aber von einer erhöhten Rechenschaftspflicht gegenüber demokratisch legimitierten EU-Institutionen begleitet sein. Maßnahmen, durch welche Sparer:innen zu risikoreichen Investitionen und Pensionsvorsorgeprodukten „motiviert“ werden, sind sehr kritisch zu sehen. Öffentliche Pensionssysteme mit Umlagesystem haben sich als Stabilisator in Krisen erwiesen und sollten Vorrang haben. Auch das Forcieren von Verbriefungen, welche wesentlich zur Finanzkrise beigetragen haben, ist hochproblematisch. Schließlich hat sich gezeigt, dass ein instabiler Finanzsektor gravierende Folgen für Arbeitnehmer:innen, Konsument:innen, Unternehmen und den Staat hat. Diese Erkenntnis muss bei der Vertiefung der Kapitalmarktunion in den Fokus rücken. Lücken zur Umgehung von Regulierungen müssen geschlossen werden. Die Schutzinteressen privater Kleinanleger:innen und Arbeitnehmer:innen dürfen keineswegs den Kapitalinteressen der Unternehmen untergeordnet werden. Möchte man einen fairen ökologischen Übergang im Sinne der Arbeitnehmer:innen umsetzen, wird man um massive öffentliche Investitionen nicht herumkommen.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Stellungnahme zum Lettabericht und die Zukunft des Binnenmarktes
AK EUROPA: Reset Finance. Ein Finanzsystem für die Vielen!
Enrico Letta: Much more than a market (nur Englisch)
EWSA: From Capital Markets Union to a Savings and Investments Union (nur Englisch)