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ZurückNach zähen Verhandlungen zwischen Rat und EU-Parlament wurde am 10. Februar 2024 um 2 Uhr nachts die Einigung für einen neuen Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU erzielt. Dieser bleibt verkürzt auf restriktive Schuldenregeln. Immerhin werden diese nun sinnvoller ausgestaltet als bisher. Trotzdem könnten sie Kürzungen im Sozialbereich zur Folge haben und die dringend notwendige Aufstockung öffentlicher Investitionen ausbremsen.
Nachdem die Überarbeitung der wirtschaftspolitischen Steuerung (Economic Governance) aufgrund der Covid-19-Pandemie verschoben wurde, legte die EU-Kommission im April 2023 endlich einen Reformvorschlag vor. Die bisherigen Fiskalregeln waren schon ohne Krise stark überarbeitungsbedürftig und wurden dann mit Beginn der Pandemie völlig zu Recht ausgesetzt. Statt die Steuerung im Zuge der Überarbeitung aber ausgewogen zu gestalten und konsequent auf die wirtschaftspolitischen Ziele der EU auszurichten – wie insbesondere die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen –, konzentrierte man sich weiterhin einseitig auf Defizit- und Schuldenreduktion. Die Überarbeitung beschränkte sich letztlich auf eine Abänderung des korrektiven und präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie eine Richtlinie zu den Anforderungen der haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten.
Nationale Haushaltspläne im Zentrum der Fiskalpolitik
Im Zentrum des neuen wirtschaftspolitischen Rahmens der EU sollen finanzpolitische nationale Pläne stehen, die sich grundsätzlich auf vier Jahre beziehen. Bis zu deren Ende müssen die mittelfristigen Fiskalziele eingehalten werden. Wird ein Paket an Reformen und Investitionen geschnürt, bekommen die Mitgliedsstaaten aber länger Zeit, um die Fiskalziele zu erreichen, nämlich sieben Jahre. Dieses Paket muss laut EU-Kommission entweder den ökologischen und digitalen Wandel, die Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Resilienz oder die Verteidigungsfähigkeit Europas fördern. Eine zentrale Rolle kommt der EU-Kommission zu, weil sie die nationalen Pläne bei Vorlage prüft und in Folge die jährlichen Fortschritte – gemessen vor allem am Wachstum der Staatsausgaben – überwacht. Auf Basis der Kommissionsanalyse entscheidet aber weiterhin formell der Rat, der die Pläne billigen oder bei signifikanten Abweichungen Sanktionen verhängen kann. Welche Richtung also im Zuge der wirtschaftspolitischen Steuerung eingeschlagen wird, hängt stark von der EU-Kommission und in Folge vom Rat ab. Deren Ermessensspielraum in Bezug auf eine eventuelle Verlängerung der Pläne und damit eine mögliche fiskalpolitische Entlastung ist erheblich.
Mittelfristige Fiskalziele: Begrenzung des Defizits und der Verschuldung
Im Mittelpunkt der Reformdebatte im Rat standen die konkreten Werte für die mittelfristigen Fiskalziele, die den von den Mitgliedstaaten einzuhaltenden Ausgabenpfad bestimmen. Die umstrittenen Maastricht-Ziele als Referenzpunkt im korrektiven Arm bleiben dabei unverändert, also ein maximales nominelles Defizit von 3 % und eine Staatsschuldenquote von max. 60 % des BIP. Bei einer Verletzung des Defizitkriteriums ist weiterhin sofort eine Konsolidierung des Staatsbudgets einzuleiten, wobei sich das Defizit um mind. 0,5 % des BIP pro Jahr verbessern muss.
Bei einer Verletzung des Schuldenkriteriums wird ebenfalls wie gehabt ein Verfahren ausgelöst, wenn die Staatsschuldenquote nicht schnell genug sinkt, wobei nun die Kriterien dafür entschärft wurden: Statt mind. jährlich 1/20 der Differenz abzubauen, reicht nun ein Prozentpunkt pro Jahr (bzw. 0,5 für Länder zwischen 60 und 90 % Staatschuldenquote). Das bringt eine Entschärfung für alle Länder mit einer Quote von über 70 % des BIP (der Euroraum-Durchschnitt liegt derzeit bei 90 %). Wesentlich gelockert wurde auch das Ziel im präventiven Arm: Statt einem maximalen Defizit von 0,5 % des BIP sind nun 1,5 % des BIP erlaubt – wenn die Staatschuldenquote unter 60 % des BIP liegt, gibt es gar keine zusätzliche Begrenzung mehr. Das ist ein wesentlicher Fortschritt, weil dieser zusätzliche Prozentpunkt einen erweiterten Spielraum bringt, der notwendige Investitionen – insbesondere für den Klimaschutz – ermöglicht.
Probleme bleiben
Mit der mittelfristigen Festlegung eines Obergrenzenpfades für die öffentlichen Ausgaben gibt es nun mehr Planbarkeit als mit der bisherigen fragwürdigen Schätzgröße des „strukturellen Defizits“. Trotzdem verschwindet das alte Problem der Revisionsanfälligkeit nicht. Kommt es zu einem Wirtschaftsabschwung bei gleichzeitig höherer Inflation, kann der Ausgabenpfad auch dann nicht eingehalten werden, wenn die Einnahmen inflationsbedingt stärker steigen als geplant. Verschärft wird dies durch die Neuerung, dass Abweichungen auf Kontrollkonten gebucht werden, sodass selbst relativ kleine Abweichungen schnell sanktionierbar sind.
Eine weitere Neuerung ist die Schuldentragfähigkeitsanalyse, die als Damokles-Schwert über den positiven Neuerungen hängt. Hier wird geprüft, ob auch nur das geringste Risiko besteht, dass die Staatsschuldenquote in den zehn Jahren nach Ende des Plans wieder steigt – ist das der Fall, können die Konsolidierungsvorgaben drastisch verschärft werden. Es ist allerdings ein äußerst gewagtes Unterfangen, sofortige zusätzliche Kürzungen auf Basis einer geschätzten Entwicklung der Schuldenquote von jetzt bis 2041 (unter der Annahme eines Sieben-Jahres-Plans) zu verlangen. Wiederum macht man aktuelle Politik von mehr oder weniger guten Schätzmethoden anstelle beobachtbarer Größen abhängig. Politisch rückt diese Methode die Demographie-bedingten öffentlichen Ausgaben in den Mittelpunkt.
Zu wenig Spielraum für Zukunftsinvestitionen
Insbesondere wenn die Konsolidierung einmal abgeschlossen ist, erhöhen die neuen Regeln den Budgetspielraum – auch für Investitionen. Tatsächlich weisen aber aktuell einige Länder hohe Schulden und/oder Defizite auf, sodass deren Spielraum weiterhin gering bleibt. Nach Auslaufen der Mittel aus der Recovery and Resilience Facility (RRF) werden sie es kaum schaffen, umso mehr zu kürzen, um mehr investieren zu können. Hier gab es lediglich in der finalen Phase der Verhandlungen zur neuen wirtschaftspolitischen Steuerung die Verbesserung, dass zumindest Ausgaben, die im Rahmen der nationalen Kofinanzierung von EU-Programmen getätigt werden, nicht durch die Ausgabenregel eingeschränkt werden.
Wie viel diese Ausnahme bringt, hängt von zwei Faktoren ab: kurzfristig davon, ob RRF-teilfinanzierte Ausgaben unter diese Regel fallen; mittelfristig von der Ausgestaltung des EU-Finanzrahmens 2028-2034, etwa ob die RRF in ähnlicher Form nochmals aufgelegt wird. Ist die Antwort zweimal Nein, ist die Ausnahme zu vernachlässigen. Der größte verbleibende Teil betrifft die Kohäsionspolitik, die im Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 insgesamt mit 163 Milliarden Euro von den EU-Mitgliedstaaten kofinanziert wird, davon 1,8 Milliarden Euro aus Österreich. Jährlich wären dies in Österreich gerade einmal 260 Millionen Euro, die so zusätzlich investiert werden können. Darüber hinaus werden die nationalen Kofinanzierungen durch existierende nationale Schuldenbremsen mancher Länder begrenzt.
Die Strategische Vorausschau 2023 der EU-Kommission stellt demgegenüber fest, dass die EU jährlich über 620 Milliarden Euro zusätzlich benötigt, um die Klimaziele des Green Deal und die Energieziele von REPowerEU zu erreichen. Zwar bezieht sich die Zahl auf öffentliche und private Investitionen, dennoch zeichnet sich mit der geplanten Regelung keine Lösung ab. Um den Zielen der EU-Kommission gerecht zu werden und die wirtschaftspolitische Steuerung zukunftsfit zu gestalten, müsste ein viel umfassenderer Spielraum für Investitionen in einen sozial-ökologischen Umbau gegeben sein.
Wie sozial und demokratisch sind die neuen Regeln?
Im Zuge der Haushaltsprüfung durch die EU-Kommission werden die Prinzipien der Europäischen Säule sozialer Rechte als auch Risiken der sozialen Kohärenz berücksichtigt und gemessen. Dadurch entsteht zumindest eine Chance auf eine Verlängerung der Fiskalpläne von vier auf sieben Jahre. Dies ist positiv zu sehen. Vorsicht ist jedoch angebracht. Verschiedenen Berechnungen zufolge müssen die Mitgliedstaaten nach wie vor erhebliche Kürzungen vornehmen, um die Vorgaben zur Staatsverschuldung zu erreichen. Zwar fallen diese nunmehr deutlich geringer aus als bei den alten Regeln, dennoch sind Einschnitte bei sozialen Ausgaben zu befürchten, da klare politische Mehrheiten beispielsweise für höhere vermögensbezogene Steuern fehlen.
Darüber hinaus muss die europäische Fiskalpolitik demokratischer werden. So zählt die regulatorische Vormachtstellung der EU-Kommission bei der Bewertung der Haushaltspläne zu den wesentlichen Kritikpunkten der neuen Regeln. Insgesamt ist eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente, des EU-Parlaments, der Zivilgesellschaft und Sozialpartner in die Fiskalpolitik und deren Überwachung notwendig, um die demokratische Legitimität der wirtschaftspolitischen Steuerung zu erhöhen.
Aussicht
Damit die Einigung zwischen EU-Parlament und Rat zum Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU in Kraft tritt, muss sie noch formal verabschiedet werden. Die Abstimmung im EU-Parlament findet voraussichtlich in der letzten Plenarsitzung dieser Legislaturperiode im April statt. Bevor die neuen Regelungen im nächsten Jahr zur Anwendung kommen, wird die EU-Kommission gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einen Vorschlag zu den Nettoausgabenpfaden erarbeiten, sodass die ersten Fassungen der nationalen Fiskalpläne bis zum 20. September 2024 bei der EU-Kommission eingereicht werden können.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: EU Economic Governance Review
AK EUROPA: Vorschlag für EU Fiskalregeln nicht überzeugend
AK EUROPA: Wirtschaftspolitische Steuerung in EU demokratischer gestalten
ETUC: Positon on the Reform of the economic governance