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ZurückAlle fünf Jahre einigen sich die Staats- und Regierungschefs der EU im Zusammenhang mit den Wahlen zum Europäischen Parlament auf die politischen Prioritäten für die kommende Legislaturperiode. Die Strategische Agenda für die Jahre 2024-2029 wurde vom Europäischen Rat am 27. Juni 2024 angenommen. Europapolitische Kernanliegen aus Beschäftigtensicht kommen darin zu kurz.
EU-Ratspräsident Charles Michel leitete die Ausarbeitung der neuen strategischen Agenda im Juni 2023 mit einem Schreiben an die EU-Staats- und Regierungschefs ein. Darin skizzierte er neben dem Erreichten vier neue Prioritäten, die die Arbeit in den kommenden Jahren leiten sollen, darunter die Bewältigung der Energieproblematik und die Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungskapazitäten. Die erste ausführliche Debatte über die künftigen Prioritäten fand beim informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs am 6. Oktober 2023 in Granada statt.
Neben den regulären Tagungen des Europäischen Rates fanden in der Folge im November 2023 und im April 2024 mehrere Konsultationsrunden in europäischen Hauptstädten mit unterschiedlicher Beteiligung der Mitgliedstaaten statt, zuletzt am 12. April 2024 in Wien. Auf dem Europäischen Rat vom 27. Juni 2024 wurde die Strategische Agenda 2024-2029 schließlich angenommen. Sie beruht nunmehr auf drei Säulen: ein freies und demokratisches Europa, ein starkes und sicheres Europa sowie ein wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa.
Für die letzte Legislaturperiode fand sich unter den vier Prioritäten der strategischen Agenda 2019-2024 auch die Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas. Darauf aufbauend legte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die politischen Leitlinien für ihre erste Amtszeit fest. Neben dem European Green Deal ging es u.a. um eine Wirtschaft, deren Rechnung für die Menschen aufgeht und ein Europa, das für das digitale Zeitalter gerüstet ist.
Wohin soll die gemeinsame Reise gehen?
Schon anlässlich der Verabschiedung der Strategischen Agenda 2019-2024 wurde festgestellt, dass die Wege aus der Klimakrise und die soziale Dimension der EU vage bleiben. Das gilt umso mehr für die neuen Prioritäten. Die Strategische Agenda 2024-2029 beginnt und endet mit Verweisen auf die Gründungsziele der Union, Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. Der European Green Deal wird hingegen nicht explizit erwähnt, die Europäische Säule sozialer Rechte nur einmal.
Allerdings werden neben strategischem Wettbewerb und globaler Instabilität gleich zu Beginn die Schäden durch Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Umweltverschmutzung als Herausforderungen genannt. Die EU werde die Wettbewerbsfähigkeit stärken, die doppelte Transformation zum Erfolg führen und niemanden zurücklassen. Neben einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft werden vor allem der europäische Innovations- und Unternehmergeist beschworen. Sie sollen Investitionen ankurbeln und Europa an die Spitze der grünen und digitalen Technologien bringen.
In der umfangreichsten Säule "Ein wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa" wird klargestellt, dass es nun gilt, das Potenzial des ökologischen und digitalen Wandels pragmatisch zu nutzen, nicht zuletzt, um hochwertige Arbeitsplätze der Zukunft zu schaffen. Entscheidend dafür seien neben förderlichen Rahmenbedingungen auch Investitionen in grenzüberschreitende Infrastruktur. Angestrebt wird ein gerechter und fairer Übergang, auch mit dem Ziel, global wettbewerbsfähig zu bleiben und die Energiesouveränität zu stärken. Unter der Überschrift „gemeinsam voranschreiten“ wird auf die Europäische Säule sozialer Rechte Bezug genommen. Angestrebt werden die Stärkung des sozialen Dialogs, die Wahrung der Chancengleichheit und der Abbau von Ungleichheiten.
Vor allem geht es aber auch darum, den Binnenmarkt zu vertiefen, die Kapitalmarktunion zu verwirklichen, die Interessen der EU in der Handelspolitik zu wahren und strategische Kapazitäten in Bereichen wie Verteidigung, künstliche Intelligenz, Gesundheit und grünen Technologien aufzubauen. Die Innovationsfähigkeit soll gestärkt und der administrative Aufwand für Unternehmen verringert werden.
Die Säule zum starken und sicheren Europa spricht im Kontext der aktuellen sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen auch die Vorbereitung der nächsten Erweiterung und den Schutz der Außengrenzen an. Und unter der Säule zum freien und demokratischen Europa sollen auch Tech-Giganten in die Pflicht genommen werden, den demokratischen Dialog im Internet zu schützen. Die EU soll weiterhin die stärkste Verfechterin der internationalen Rechtsordnung und der Charta der Vereinten Nationen sein und sich um die Förderung des Weltfriedens bemühen.
Prioritäten der Gewerkschaften und Zivilgesellschaft
EGB-Generalsekretärin Esther Lynch zeigte sich bereits in einem am 22. Juni 2024 veröffentlichten Brief darüber besorgt, dass der notwendige Schwerpunkt auf die Verbesserung der Situation der arbeitenden Menschen und ihrer Familien in der strategischen Agenda fehlt. Das klare Ziel müsse sein, in jedem Sektor und in jeder Region hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen, Fortschritte bei der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte – im Einklang mit den Erklärungen von La Hulpe und Val Duchesse – zu erzielen sowie Maßnahmen gegen Sozialdumping und -betrug zu setzen.
Sie fordert einen allgemeinen Zugang zu qualitativ hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen, die Beteiligung der Gewerkschaften an der Gestaltung des Wandels, um einen gerechten grünen und digitalen Übergang mit fairen Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, sowie soziale Bedingungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Förderungen. Vom Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit dürfe kein Druck auf Löhne, Tarifverhandlungen oder die Rechte der Beschäftigten ausgehen. Weitere Details sind dem EGB-Manifest „Ein fairer Deal für Arbeitnehmer:innen“ zu entnehmen.
Auch die Spitzen von ÖGB und AK haben am 21. Juni 2024 in einem Schreiben an den österreichischen Bundeskanzler die Berücksichtigung zentraler europapolitischer Anliegen aus Beschäftigtensicht eingefordert. Aus Sicht von ÖGB und AK tragen die Prioritäten den großen Herausforderungen der Gegenwart, wie der Bekämpfung der Klimakrise, der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der Armutsgefährdung, nur unzureichend Rechnung. Europa sollte danach streben, der erste Kontinent zu werden, der allen Menschen sichere, gute und angemessen bezahlte Arbeitsplätze bietet.
Gefordert werden die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, das Festhalten am European Green Deal mit einem Rahmenwerk für den gerechten Übergang, eine koordinierte langfristige industriepolitische Strategie mit konkreten Zielen und ausreichenden finanziellen Mitteln sowie die Demokratisierung der EU mit einem Initiativrecht des EU-Parlaments in Gesetzgebungsverfahren. Schon Ende Mai empfahl eine breite Allianz aus Zivilgesellschaft, Unternehmen, Städten und Regionen in einem offenen Brief, das Dokument zu einem „strategischen Nordstern“ zu erheben, u.a. zur Schaffung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas.
Von der Strategie zum Programm
All diese Forderungen finden sich in dem schließlich verabschiedeten Dokument nur in Ansätzen wieder. Allerdings hat dieses nach Ansicht von Beobachter:innen in den langwierigen Verhandlungen auch an Klarheit verloren. So wurde zwar die erforderliche Einstimmigkeit erreicht, die Bedeutung sei aber im Vergleich zu früheren politischen Zielsetzungen geringer. Nun kommt es darauf an, wie sich das neue EU-Parlament positioniert und welche politischen Leitlinien schließlich auch die EU-Kommissionspräsidentin für ihr nächstes Arbeitsprogramm daraus ableiten wird.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Strategische Agenda 2019-2024: Prioritäten richtig gesetzt?
AK EUROPA: Erklärung von La Hulpe. Bekenntnis zum sozialen Europa – ohne Österreich
AK EUROPA: Sozialer Dialog als Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit
AK EUROPA: Soziale Frage im Fokus. Warum gerade jetzt ein sozial gerechter Übergang gestärkt werden muss
Europäischer Rat: Strategic Agenda 2024-2029 (nur Englisch)
Europäischer Rat: Zeitleiste – Entstehung der Strategischen Agenda 2024‑2029
Europäischer Rat: Eine neue Strategische Agenda 2019-2024
Europäische Kommission: Politische Leitlinien für die künftige Europäische Kommission 2019-2024
EGB: Open letter to European Council on the Strategic Agenda 2024-2029 (nur Englisch)