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ZurückAm 1. Juli 2020 übernahm Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Die Erwartungen sind hoch, schließlich muss Deutschland als „ehrlicher Makler“ eine Einigung über den Wiederaufbauplan herbeiführen. Auch die soziale Sicherheit der EuropäerInnen soll verbessert werden.
Nachdem die kroatische Ratspräsidentschaft den Corona-bedingten Ausnahmezustand im ersten Halbjahr europapolitisch begleitete, fällt die Aufgabe eines koordinierten, fairen und grünen Wiederaufbaus Europas nun der deutschen Ratspräsidentschaft zu, die am 1. Juli begann. Mit der Kompromissfindung zum Wiederaufbauplan und dem Abschluss der Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen warten Mammutaufgaben und hohe Erwartungen auf den deutschen Vorsitz. Unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ sollen auch sozialpolitische Fortschritte erzielt werden.
Einigung zum Wiederaufbauplan und zum MFR
Zum ersten Showdown kommt es bereits am 17. und 18. Juli, wenn die Staats-und RegierungschefInnen – nach der Corona-Pause erstmals wieder physisch anwesend – im Rahmen des Europäischen Rates über den Kommissionsvorschlag zum Wiederaufbauplan beraten. Unstrittig ist dabei der Brückenschlag zwischen wirtschaftlicher Erholung und dem Vorantreiben des Grünen Deals und der digitalen Transformation, die zu inklusivem und nachhaltigen Wachstum führen sollen. Mit einem Verhandlungserfolg, der auch die „Sparsamen Vier“, damit Österreich, Dänemark, die Niederlande und Schweden, ins Boot holt, könnte früh ein großer Brocken aus dem Weg geräumt werden. Die Verschiebung einer Einigung bis nach der Sommerpause ist für den deutschen Botschafter Michael Clauß jedenfalls keine Option. Laut des Programms der Ratspräsidentschaft soll das Aufbauinstrument „Next Generation EU“ zeitlich begrenzt und politisch im Europäischen Semester eingebettet sein – ein Ansatz, den die AK aufgrund der jetzigen Ausrichtung des Europäischen Semesters und fehlender Einbindung des Europäischen Parlaments kritisch sieht. Die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 müssen ebenfalls dringend zum Abschluss gebracht werden, da die Architektur des Wiederaufbaus eng mit dem MFR verknüpft ist. Für das EU-Budget setzt Deutschland auf starke und handlungsfähige Strukturfonds, die die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in den Regionen abfedern sollen. Dem Europäischen Sozialfonds sollen dabei gemäß des Kommissionsvorschlags Mittel aus dem Wiederaufbaufonds zu Gute kommen, um Maßnahmen mit Corona-Bezug zu finanzieren. Allerdings sollte der deutsche Vorsitz Kürzungen von ESF+-Mitteln, die für die Gegensteuerung von langfristigen sozialen Verwerfungen dringend gebraucht werden, unbedingt verhindern.
Richtige Richtung: Soziales Europa und verantwortungsvolle Lieferketten
Neben dem europäischen Binnenmarkt soll auch die soziale Sicherung in Europa krisenfester gemacht werden, und zwar durch höhere Mindeststandards unter starker Beteiligung der Sozialpartner. Im Einklang mit der weiteren Umsetzung der Europäische Säule sozialer Rechte will sich der deutsche Vorsitz für einen europäischen Rahmen der Mindestlohnsetzung engagieren, den die Kommission zurzeit im Rahmen der zweiten Phase der Sozialpartnerkonsultation verfolgt. Ebenso soll ein Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickelt werden. Der Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung, der auch im Kommissionsarbeitsprogramm steht, soll geprüft werden. Im Rahmen von Ratsschlussfolgerungen auf Basis von Kommissions-Leitlinien soll auch die menschenunwürdige Situation von SaisonarbeiterInnen, die Deutschland zurzeit auch innenpolitisch beschäftigt, auf europäischer Ebene in Angriff genommen werden. Zum Thema Geschlechtergerechtigkeit legt der deutsche Vorsitz den Fokus auf die Gleichstellung im Erwerbsleben inklusive Lohntransparenz und die überfällige Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Darüber hinaus kündigt Deutschland ein Engagement für die Jugendgarantie und für eine starke europäische Weiterbildungspolitik an. Mit der aktualisierten Kompetenzagenda legte die Kommission am 1. Juli einen entsprechenden Vorschlag vor. Erfreulicherweise legt das Programm der Ratspräsidentschaft auch einen besonderen Akzent auf die faire Gestaltung von Wertschöpfungsketten und verspricht einen EU-Aktionsplan zur Stärkung der Unternehmensverantwortung in globalen Lieferketten. Weniger erfreulich gestalten sich hingegen die handelspolitischen Vorhaben, etwa die angestrebte Finalisierung des umstrittenen MERCOSUR-Abkommens oder die Bemühungen um einen Multilateralen Investitionsgerichtshof. Überdies soll die Widerstandsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit von krisengebeutelten KMUs durch strategische europäische Wertschöpfungsketten unterstützt werden.
Konzerninteressen bändigen!
Wenn der Wiederaufbau wirklich allen zugutekommen soll, dürfen nicht nur die Stimmen der Wenigen gehört werden. Zum Startschuss der deutschen Ratspräsidentschaft unterstützt die AK deshalb einen Aufruf der lobbykritischen Brüsseler NGO Corporate Europe Observatory (CEO) und der deutschen NGO LobbyControl für mehr Transparenz und die Bändigung von Konzerninteressen. Gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, sowie 92 EU-Abgeordneten, fordert die AK, dass Deutschland sich für eine Reform der EU-Gesetzgebungsverfahren, insbesondere mit Blick auf mehr Transparenz in der Ratsarbeit einsetzt. Als volkswirtschaftliches Schwergewicht steht Deutschland besonders in der Pflicht, seine Ratspräsidentschaft nicht von Industrieinteressen leiten zu lassen. Eine aktuelle Studie von LobbyControl und CEO zeigt schließlich, dass sich Deutschland auf nationaler und europäischer Ebene regelmäßig den Wirtschaftsinteressen der Auto-, - Gas- oder Chemieindustrie beugt und somit engagierte Klimapolitik, die über einen progressiven grünen Anstrich hinausginge, verhindert. Unvergessen bleiben auch Deutschlands Blockaden in der europäischen Steuerpolitik, die - ganz im Interesse der Unternehmenslobby - das Instrument der öffentlichen länderbezogenen Steuerberichterstattungen noch im November 2019 verhinderten.
Die deutsche Ratspräsidentschaft kann in den nächsten sechs Monaten vieles richtigmachen und beispielweise den Ausbau eines sozialen Europas vorantreiben. Vorsicht ist allerdings auf Grund der deutschen Nähe zu Unternehmensinteressen geboten, die einmal mehr ein klares Engagement für eine gerechte und dringend notwendige europäische Steuerpolitik untergraben könnte. Zudem lassen sich im Programm Alarmsignale finden, etwa wenn die „effektive Umsetzung“ der „One it, One out“-Regel postuliert wird oder für die „Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ im Kontext des Stabilitäts- und Wachstumspakt geworben wird. Aus Sicht der AK bedarf es vielmehr einer Einführung der Goldenen Investitionsregel, die die erfolgreiche und faire Umsetzung des Grünen Deals durch angemessenen budgetären Handlungsspielraum ermöglichen würde.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Deutsche Ratspräsidentschaft: Keine Dominanz der Konzerninteressen