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ZurückEin neues Social Europe Dossier beschäftigt sich mit den aktuellen Herausforderungen der EU-Industriepolitik. Dabei werden die konzeptionellen und praktischen Defizite des derzeitigen industriepolitischen Ansatzes aufgezeigt und eine Vision für eine EU-Industriepolitik entwickelt, die auf sozialer Inklusion und wirksamer Governance basiert. Anlässlich der Veröffentlichung des Dossiers organisierte AK EUROPA in Kooperation mit der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE) am 15. September 2025 eine große Diskussionsveranstaltung in Brüssel.
Angesichts zunehmender geopolitischer Rivalitäten, Sorgen um die wirtschaftliche Sicherheit und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit bei digitalen Technologien gewinnt die Industriepolitik in der europäischen Politik wieder an Bedeutung. War die Diskussion ursprünglich von dem Wunsch getrieben, den ökologischen Wandel zu unterstützen und die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu stärken, hat sich der Schwerpunkt zuletzt auf sicherheitspolitische Belange verlagert, insbesondere auf Hochtechnologien und Wehrtechnik.
Progressive Industriepolitik: Ein mehr als abendfüllendes Thema
Den Brüsseler Auftakt der Kooperation zwischen AK und ÖFSE zu Fragen progressiver Industriepolitik bildete am 23. Mai 2024 ein Runder Tisch mit AK Präsidentin Renate Anderl, bei dem breit darüber diskutiert wurde, wie die grüne und digitale Transformation im Sinne der Arbeitnehmer:innen gestaltet werden kann. Am 10. Februar 2025 stellte Werner Raza (ÖFSE) dann bei einem zweiten Runden Tisch mit Expert:innen aus Interessenvertretungen, NGOs, politischen Think Tanks, der EU-Kommission und österreichischen Ministerien die Ergebnisse eines in der Zwischenzeit erarbeiteten Forschungsberichts vor. Der Bericht wurde kurz nach der Präsentation des Clean Industrial Deal veröffentlicht.
Die gut besuchte Abendveranstaltung am 15. September diente nun der Diskussion der bisherigen Forschungsergebnisse der zweiten Runde des industriepolitischen Kooperationsprojekts von AK und ÖFSE. Im Rahmen dieser Runde wurde nicht nur das Social Europe Dossier erarbeitet. Geplant ist auch ein akademischer Sammelband mit weitergehenden Analysen. Diesem war am darauffolgenden Tag ein eigener Workshop mit den Autor:innen der einzelnen Beiträge gewidmet.
Eröffnung des Abends und Präsentation des Dossiers
Judith Vorbach (AK EUROPA) betonte in ihrer Begrüßung, dass die Veranstaltung genau zum richtigen Zeitpunkt komme: In einem sehr dynamischen Umfeld und vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen, schwieriger Handelsbeziehungen zwischen der EU und den USA, einer angespannten Lage innerhalb der EU selbst und inmitten der Klimakrise. In ihrer jüngsten Rede zur Lage der Union habe sich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen auf geopolitische Fragen, Verteidigung und Wettbewerbsfähigkeit konzentriert. Unter anderem kündigte sie ein Gesetz zur Beschleunigung der industriellen Entwicklung und weitere Omnibus-Pakete an. Der Abend solle daher einen kritischen Blick auf die Industriepolitik der EU werfen, ihre Defizite analysieren und eine Vision entwickeln, wie sie im Sinne sozialer Inklusion und im Interesse der Arbeitnehmer:innen gestaltet werden kann.
Auch Christa Schlager (AK Wien) bezog sich ebenfalls auf die veränderten globalen Rahmenbedingungen. Obwohl die Diskussion über die gerechte Gestaltung der doppelten Transformation gerade erst richtig in Fahrt gekommen sei, gehe es nun vorrangig um die Bewältigung der Energiekrise und der Pandemie, die Erkenntnisse des Draghi-Berichts oder die Notwendigkeit steigender Verteidigungsausgaben. Das habe einen starken Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Die Überlagerung multipler Krisen habe auch zu einer angespannten budgetären Lage in den Mitgliedstaaten geführt. Vor diesem Hintergrund sei es der Auftrag der AK, den wirtschaftspolitischen Diskurs im Interesse von 4 Millionen Beschäftigten mitzugestalten.
Werner Raza (ÖFSE) erläuterte in seiner Keynote zunächst den Aufbau des E-Books und warf dann einen kritischen Blick auf den Status quo der Umsetzung des Grünen Deals: Von den rund 150 Zielen sind derzeit nur rund ein Fünftel auf Kurs. Große externe Abhängigkeiten bestehen weiterhin bei grünen und digitalen Technologien, Energie und kritischen Rohstoffen. Die einschlägigen EU-Förderprogramme seien durch fragmentierte Finanzierung, komplexe Strukturen und uneinheitliche Umsetzung gekennzeichnet. Es würde an einer kohärenten strategischen Perspektive mangeln, insgesamt sei der industriepolitische Zugang zu technokratisch und top-down. Innovationen und Investitionen würden nur unzureichend ermöglicht bzw. gefördert. Diesen Defiziten müsste durch breite gesellschaftliche Allianzen und politische Narrative und Visionen der Solidarität sowie faire und ausgewogene globale Partnerschaften begegnet werden.
Diskussion mit einer hochkarätig besetzten Runde
Angesichts aktueller Herausforderungen wie dem Krieg in der Ukraine und neuer Handelskonflikte eröffnete Outi Slotboom (Europäische Kommission) die Podiumsdiskussion mit der Frage, wie die EU ihre grünen Ambitionen fortsetzen, ihre demokratischen und ökonomischen Modelle schützen und ausbauen sowie auf einen Wachstumspfad zurückkehren könne. Dafür sei es entscheidend, die Innovationskraft in der EU zu erhalten, Investitionen anzuziehen und den Binnenmarkt zu stärken. Die EU müsse eine offene Wirtschaft mit hohen sozialen und ökologischen Standards bleiben. Wesentliche Hebel seien unter anderem eine entschlossenere Handelspolitik, die gezielte Nutzung der öffentlichen Beschaffung und die Integration der Beitrittskandidaten in den Binnenmarkt bereits vor dem Vollbeitritt. Die aktuellen Omnibus-Gesetze seien ebenso notwendig wie eine langfristige Planung für eine gerechte Transformation.
Sara Matthieu (Mitglied des Europäischen Parlaments) betonte, dass die grüne Transformation stets von sozialen Maßnahmen begleitet werden müsse. Gleichzeitig sei der Green Deal die beste Strategie für Wettbewerbsfähigkeit, sofern die Unternehmen die notwendige Investitionssicherheit erhalten. Es sei daher grundlegend, dass man an den Zielen festhält. Eine Deregulierung oder die Abschwächung des ursprünglich angekündigten Industrial Decarbonisation Accelerator Act wären der falsche Weg. Um den Wandel fair zu gestalten, brauche es eine Just Transition Richtlinie, die dafür sorgt, dass die Beschäftigten die Transformation im eigenen Interesse mitgestalten können. In der internationalen Zusammenarbeit gelte es, neue, fairere Beziehungen zum Globalen Süden aufzubauen und einen neuen Umgang mit China zu finden, um Clean Tech in Europa zu halten. Im Interesse zusätzlicher Eigenmittel könnten digitale Dienstleistungen besteuert werden.
Isabelle Barthès (industriAll Europe) sah die größte Gefahr darin, dass die Beschäftigten in Europa die aktuellen Probleme längst am eigenen Leib spüren. Austeritätspolitik, schrumpfende Nachfrage in zentralen Industriebereichen und hohe Lebenshaltungskosten würden zur Verunsicherung beitragen. Betroffen seien davon nicht nur traditionelle Sektoren wie die Stahlproduktion, sondern auch Technologien, die wesentlich zur Transformation beitragen sollen, wie etwa Wasserstoff. Die bisherigen Maßnahmen des Clean Industrial Deal seien primär auf Deregulation ausgerichtet und daher nicht im Interesse der Beschäftigten. Dafür stünden auch die strategischen Dialoge: Konzerne stellen weiterhin den Profit über alles, im Zweifelsfall wird mit Standortverlagerung gedroht. Dringend geboten wären aber Maßnahmen für eine gerechte Transformation. Dazu müssten auch multinationale Konzerne mit verbindlichen Zusagen beitragen. Eine große Herausforderung stelle der aktuelle Fachkräftemangel dar. Deshalb müsse der Staat besser für Qualifikationsbedarfe vorsorgen.
Rainer Kattel (University College London) merkte an, dass alle Diskussionsteilnehmer:innen das Gefühl der Dringlichkeit teilen. EU-Prozesse würden demgegenüber strukturell träge wirken und nicht gut auf Dringlichkeit reagieren können. Das Beispiel Deep Technology, bei dem sich vieles im Bereich der Sicherheits- und Rüstungsindustrien abspiele, mache deutlich, dass die EU in manchen Bereichen klar hinterherhinkt. Gerade Investitionen in Verteidigungstechnologien würden dabei große Wirkung entfalten. Er forderte grundsätzlich einen inklusiveren Zugang zu Innovation, mit breiter öffentlicher Beteiligung. Gerade im öffentlichen Sektor müsse man über Innovation nachdenken, die Beschäftigten seien dort noch viel zu wenig mit dem Thema konfrontiert. Gerade weil durch die breitere Anwendung künstlicher Intelligenz viele Arbeitsplätze wegfallen werden, gelte es, öffentliche Dienstleistungen nicht als Kosten, sondern als Investitionen zu begreifen, die die Menschen auf diesen Wandel vorbereiten.
Werner Raza stellte zusammenfassend fest, dass die derzeitige EU-Strategie einen falschen Gegensatz zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Sozialstaat konstruiert. Auch sei die Priorisierung von Verteidigung gegenüber einer grünen Transformation problematisch. Der Draghi-Bericht habe deutlich aufgezeigt, dass die EU eine Innovationslücke hat und Investitionen in die Menschen notwendig seien. Angesichts der aktuellen globalen Rahmenbedingungen mit zunehmendem Protektionismus werde der Anteil des Exports am BIP weiter sinken. Entscheidend seien daher ein stärkerer Fokus auf den Binnenmarkt, die Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und die Ergänzung von Industriepolitik durch verteilungspolitische Maßnahmen.
Weiterführende Information:
Social Europe Dossier: Industrial Policy in the European Union: Towards a Progressive Agenda (nur Englisch)
ÖFSE: Towards a progressive industrial policy for the Twin Transformation in the European Union (nur Englisch)
A&W-Blog: Industriepolitik für die doppelte Transformation – es braucht jetzt eine progressive Agenda!
AK EUROPA: Die Zukunft der Industrie in Europa. In welche Richtung soll der Kompass weisen?
AK EUROPA: Industrie, Energie und Automobil. Neue Pläne für die Transformation
AK EUROPA: Anforderungen der Beschäftigten an die EU-Industriepolitik. Diskussionsrunde mit AK Präsidentin Renate Anderl
AK EUROPA: Ein Kompass für die Wettbewerbsfähigkeit der EU
AK EUROPA: Konsultation zum Clean Industrial State Aid Framework (CISAF)
AK EUROPA: Der Clean Industrial Deal
AK EUROPA: Aktionsplan für die europäische Automobilindustrie