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ZurückDer digitale und grüne Umbau der Wirtschaft und die gute Positionierung Europas in der Weltwirtschaft erfordern eine Renaissance der aktiven Industriepolitik. Um mit Expert:innen sowie Vertreter:innen aus Institutionen und Interessenvertretungen über Herausforderungen und Strategien ins Gespräch zu kommen, organisierte AK EUROPA am 23. Mai 2024 einen Runden Tisch in Brüssel. AK Präsidentin Renate Anderl und Werner Raza, Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung, plädierten in ihren Eröffnungsstatements für eine gerechte Finanzierung des Umbaus und soziale Konditionalitäten.
Die notwendige Dekarbonisierung von Produktion und Konsum in Verbindung mit der Digitalisierung ist die Jahrhundertaufgabe der doppelten Transformation. Sie führt zu deutlich spürbaren Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelten. Angesichts der geopolitischen Umbrüche der letzten Jahre, der strukturellen Abhängigkeiten von Drittstaaten beim Zugang zu kritischen Rohstoffen und Hochtechnologieprodukten sowie der Diskussion über strategische Autonomie ist es zu einer Renaissance der EU-Industriepolitik gekommen. Die Frage der demokratischen Mitbestimmung und somit auch der Rolle der Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen wird dabei aber vielfach vernachlässigt, obwohl die Veränderungsprozesse starke verteilungspolitische Auswirkungen haben.
Zukunftsorientierte Industriepolitik muss die Beschäftigten im Fokus haben
AK Präsidentin Renate Anderl stellte in ihrer Eröffnungsrede die Beschäftigten und die gerechte Finanzierung des Wandels ins Zentrum. „Digitalisierung und Klimawandel stellen alle europäischen Staaten vor große Herausforderungen“, führte sie aus. Die Klimakrise verändere das Leben und den Alltag der Menschen tiefgreifend und mache einen Umbau der Wirtschaft notwendig, betroffen seien allen voran die Beschäftigten in der Industrie. „Die gute Nachricht ist: Der ökologische und digitale Umbau ist gestaltbar. Wichtig dabei ist, dass der Umbau Vorteile und Verbesserungen für alle bringt, die Arbeitnehmer:innen und die Betriebe.“ Die Arbeitsplätze der Zukunft müssen auch gute Arbeitsplätze sein. Als Sozialpartner müsse man aber auch die Unternehmen im Blick haben.
Aus- und Weiterbildung seien wesentliche Hebel, um den Umbau im Sinne aller Beteiligten gut zu schaffen. Renate Anderl: „Gut ausgebildete Fachkräfte sind der Schlüssel für Innovation und damit auch entscheidend für den Erfolg der Unternehmen.“ Die AK übernimmt hier bereits Verantwortung, z.B. mit dem Öko-Booster, der kürzlich mit dem Staatspreis für Erwachsenenbildung ausgezeichnet wurde. Auch die AK-Forderung nach einem Recht auf eine Woche Weiterbildung pro Jahr während der Arbeitszeit wäre ein wichtiger Beitrag. Zentral sei auch die Teilhabemöglichkeit am Arbeitsmarkt, insbesondere für Frauen. Die Sozialpartner fordern daher gemeinsam eine flächendeckende Kinderbetreuung. Entscheidend sei aber auch die gerechte Finanzierung. „Der Umbau wird Geld kosten, das steht außer Frage. Es ist daher höchste Zeit, dass alle einen gerechten Beitrag leisten – allen voran die Superreichen, die weit mehr Anteil an der Verursachung der Klimakrise haben, aber auch jene Konzerne, die sich mit Steuertricks ihrer Verantwortung entziehen.“
Welche EU-Industriepolitik? Defizite, Herausforderungen und progressive Vorschläge
Werner Raza betonte in seiner Keynote, dass Industriepolitik viele Politikbereiche betreffe und eine gesellschaftliche Herausforderung sei. Es brauche eine klare Definition von Zielen (der "Mission"), Zeitrahmen, Verantwortlichkeiten und Instrumenten. Dazu sei auch das Engagement von Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, Regierungen und Unternehmen notwendig. Als Defizite, Herausforderungen und Sorgen der letzten fünf Jahre nannte er die Pandemie, Versorgungssicherheit, Lieferkettenprobleme, strategische Autonomie, Wettbewerbsfähigkeit (vor allem gegenüber den USA und China), Energiepreise, Deindustrialisierung und die grüne Transformation. Statt geopolitischer Rivalität sollte sich die Wettbewerbspolitik auf Produktivität und technischen Fortschritt konzentrieren, um Win-Win-Situationen zu ermöglichen.
Die an der grünen Transformation beteiligten und von ihr betroffenen Akteure, wie die Sozialpartner, sollten stärker in den Prozess eingebunden werden. Das aktuelle Just Transition Framework der EU sei zu eng gedacht. Es brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag und soziale Mindeststandards auf europäischer Ebene, Bildung und Re-Skilling, möglicherweise Beschäftigungsgarantien. Derzeit würden die finanzstarken und großen EU-Mitgliedstaaten in der Industriepolitik vorpreschen während andere im Nachteil seien – es brauche daher eine europäische Strategie und Finanzierung von Investitionen. Der makrofinanzielle Rahmen müsse in diesem Sinne angepasst werden. Auch in der Innovationspolitik brauche es bei Förderungen mehr Risikofreudigkeit. Gleichzeitig müssen alle Förderungen an soziale Konditionalitäten geknüpft werden.
Expert:innendiskussion zu Herausforderungen, Strategien und guter Arbeit
Die Diskussion fand in den Räumlichkeiten der Foundation for European Progressive Studies (FEPS) in Brüssel statt. Neben den Gastgeber:innen von AK und FEPS nahmen Expert:innen der Brüsseler Büros von ÖGB, WKO, Industriellenvereinigung, DGB und IG Metall, des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI), der Generaldirektion Beschäftigung der EU-Kommission sowie des Brüsseler Center for Climate and Social Justice der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) daran teil. Hervorgehoben wurde die Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit und des fiskalischen Spielraums, da sich die Investitionslücke für die Transformation der Wirtschaft auf 400 Milliarden pro Jahr belaufe. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass sich die Transformation auf die Struktur des Arbeitsmarktes auswirken wird. Zentrales Ergebnis der FES-Studie „Auf die Jobs kommt es an“ ist, dass in Zukunft neue Jobmöglichkeiten vielfach in gewerkschaftlich weniger gut organisierten Kleinbetrieben entstehen, während möglicherweise viele Arbeitsplätze in gut organisierten Unternehmen verloren gehen könnten. Die Gewerkschaften dürften sich in der Standortdebatte nicht gegeneinander ausspielen lassen. Auch deshalb ist für gute Arbeitsplätze soziale Konditionalität so wichtig.
Positiv wurde vermerkt, dass es laut einer Eurobarometer-Umfrage eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zur Notwendigkeit von Transformationsmaßnahmen gebe. Entscheidend seien Ansätze einer Just Transition und einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit sowie ein stärkeres Mainstreaming der relevanten Politiken. Generell wurde eine stärkere Einbindung der Sozialpartner gefordert. Fragen der Technologien und Strategien, der Mitbestimmung und des sozialen Dialogs sowie des finanziellen Rahmens, der Effizienz der eingesetzten Mittel und der Konditionalitäten werden in Zukunft weiter diskutiert werden.
Perspektiven für die kommenden Jahre
Aus Sicht der AK ist eine aktive und strategische Neuausrichtung der europäischen Wirtschafts- und Industriepolitik notwendig, um die Herausforderungen der Transformation zu bewältigen. Erfolgreich kann nur eine Industriepolitik sein, die alle betroffenen Politikbereiche berücksichtigt und die relevanten Stakeholder in eine Gesamtstrategie einbindet. Besondere Bedeutung haben die makroökonomischen Rahmenbedingungen für Beschäftigung und nachhaltigen Wohlstand, auch im Sinne von Kreislaufwirtschaft, gerechter Verteilung und Berücksichtigung der sozialen Frage.
Wie sich die Industriepolitik in Europa in den nächsten fünf Jahren entwickeln wird, wird auch maßgeblich von den bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament bestimmt. Auch deshalb ist es wichtig, zur Wahl zu gehen.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Neue Europäische Industriepolitik – Fokus: Green Deal Industrial Plan & Net-Zero Industry Act
AK EUROPA: Industriepolitik
AK EUROPA: Der Critical Raw Materials Act
Europäische Kommission: Europäische Industriestrategie
Europäische Kommission: Fairer ökologischer und digitaler Wandel, Forschung
Arbeiterkammer: Stimme für Demokratie: Für ein gerechteres Europa
Friedrich-Ebert-Stiftung: Auf die Jobs kommt es an