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ZurückNachdem die EU-Kommission am 29. Jänner ihren Kompass für Wettbewerbsfähigkeit vorgestellt hat, diskutiert ganz Brüssel wieder darüber, wie sich Europa wirtschaftspolitisch gegenüber den USA und China behaupten und damit den Wohlstand nachhaltig sichern kann. Nicht nur der Rat hat sich unter polnischem Vorsitz für das kommende halbe Jahr Industriepolitik auf die Fahnen geschrieben. Auch AK EUROPA positionierte sich Anfang Februar mit zwei Veranstaltungen zu dieser Frage. Nun warten alle gespannt auf die Veröffentlichung des nächsten großen Meilensteins der EU-Industriepolitik: den Clean Industrial Deal.
Bemühungen zur Stärkung der europäischen Industrie im Rahmen des Green Deal wurden bereits im Februar 2023 eingeleitet, als die EU-Kommission im Zusammenhang mit dem Green Deal Industrial Plan mit zwei entscheidenden Gesetzesvorschlägen, dem Net-Zero Industry Act und dem Critical Raw Materials Act, erste Antworten auf den Inflation Reduction Act (IRA) der USA geben wollte. Beide Gesetze konnten noch in der letzten Legislaturperiode verabschiedet werden und befinden sich in der Umsetzungsphase. Nun hat die EU-Kommission auf strategischer Ebene mit dem Kompass für Wettbewerbsfähigkeit nachgelegt. Grundlage des neuen strategischen Rahmens, der zu Innovation, Dekarbonisierung und Versorgungssicherheit beitragen soll, sind wiederum die beiden Politikberichte, die bereits in der zweiten Jahreshälfte 2024 für viel Aufmerksamkeit gesorgt haben: der Letta-Bericht zum europäischen Binnenmarkt und der Draghi-Bericht zu Wettbewerbsfähigkeit.
AK EUROPA hat sich bereits im Mai 2024 bei einem Runden Tisch mit AK-Präsidentin Renate Anderl in die Brüsseler Diskussion zu industriepolitischen Prioritäten in der EU eingebracht. Im Zentrum stand die Frage, wie die grüne und digitale Transformation im Sinne der Arbeitnehmer:innen gestaltet werden kann. Der Runde Tisch war der Auftakt zu einer Kooperation zwischen der AK und der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE), in deren Rahmen ÖFSE-Direktor Werner Raza einen Bericht über eine progressive industriepolitische Agenda für die doppelte Transformation in der EU erstellt hat. Dieser wird kurz nach der Veröffentlichung des Clean Industrial Deal publiziert werden.
Am 4. Februar 2025 folgte eine Publikumsveranstaltung von AK EUROPA und dem ÖGB Europabüro mit hochrangigen Gewerkschafter:innen – Judith Kirton-Darling (Generalsekretärin industriALL Europe), Reinhold Binder (Bundesvorsitzender PRO-GE), Peter Schleinbach (Bundesgeschäftsführer PRO-GE), Sophie Dura (politische Sekretärin des EU-Verbindungsbüros der IG Metall) – und der EU-Parlamentarierin Evelyn Regner, die das Licht auf die Chancen einer europäischen Industriestrategie richteten. Und am 10. Februar 2025 stellte Werner Raza schließlich die Ergebnisse seines Berichts bei einem weiteren Runden Tisch mit Expert:innen aus Interessenvertretungen, NGOs, politischen Think Tanks, der EU-Kommission und österreichischen Ministerien vor.
Eine progressive Industriepolitik in der EU. Kernaussagen des ÖFSE-Berichts
Nach Jahren der Vernachlässigung ist Industriepolitik als zentrales Thema auf die politische Agenda der EU zurückgekehrt. Um die Synergien zwischen grünen und digitalen Technologien zu nutzen, ist eine aktive Rolle des Staates erforderlich, da sich über den Markt allein die notwendigen Veränderungen nicht rechtzeitig herbeiführen lassen. Effektive Industriepolitik braucht klare Ziele, staatliche Verantwortung und Kapazitäten; Privatsektor und Zivilgesellschaft müssen beteiligt werden. Abhängigkeiten von Energie- und Rohstoffimporten, eine komplexe Governance-Struktur, mangelnde strategische Kohärenz und Legitimität sowie eine fragmentierte Finanzierung und ein unzureichender makro-finanzieller Rahmen sind zentrale Probleme des derzeitigen Ansatzes in der EU. Daran konnten auch wichtige Programme wie der Green Deal und NextGenerationEU bisher nichts ändern.
Progressive Industriepolitik basiert auf einer solidarischen Transformationsgesellschaft, die soziale Sicherheit und einen breiten Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleistet. Ein wesentlicher Aspekt ist die Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten. Gefördert soll diese nicht zuletzt über Twin Transformation Councils (TTC) werden, in denen die entscheidenden Stakeholder, von EU-Institutionen bis hin zu Repräsentant:innen der Zivilgesellschaft, vertreten sind. Darüber hinaus muss die im Draghi-Bericht identifizierte Investitionslücke von geschlossen werden. Die von der EU-Kommission favorisierte Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion wird dafür nicht ausreichen, vielmehr sollte die Finanzierung zu 50 Prozent öffentlich erfolgen, und zwar durch eine dreigliedrige Finanzierungsstruktur: einen EU-Transformationsfonds, ein höheres EU-Budget ab 2028 und mehr geldpolitische Finanzierung durch die EZB.
Des Weiteren sind die gezielte Förderung von Energieeffizienz, erneuerbaren Energien und der Kreislaufwirtschaft sowie umfangreiche Investitionen in die Infrastruktur entscheidend. Die Transformation erfordert eine verbesserte Innovationsfähigkeit und eine engere Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens. Ein ambitioniertes und gut koordiniertes Vorgehen ist unerlässlich, um die wirtschaftliche und ökologische Zukunft Europas zu sichern.
Diskussion am Runden Tisch
Neben der Präsentation von Werner Razas Agenda einer progressiven Industriepolitik vertiefte der Innovationsforscher Erkki Karo (Tallinn University of Technology, DG GROW Economics Fellow 2025) die Frage, wie Innovationssysteme und staatliche Kapazitäten zusammenhängen. Er veranschaulichte die Bedeutung einer guten und anpassungsfähigen Bürokratie. Die Umsetzung von politischen Maßnahmen erfordert die effektive Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren. Das kann Jahre dauern. In der Diskussion wurde dann unter anderem das Verhältnis von Bürger:innenbeteiligung und populistischen Kräften erörtert sowie die Frage, ob sozialpartnerschaftliche Zugänge dadurch geschwächt werden könnten. Hier wurde klargestellt, dass ergänzende Bürger:innenforen eine verstärkte Einbindung ermöglichen und Populismus entgegenwirken sollen.
Des Weiteren wurde diskutiert, wie aus Sicht der Arbeitnehmer:innen mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen, beispielsweise in der Automobilindustrie, umgegangen werden kann. Fazit war, dass die Regionalentwicklung vor allem in den von Deindustrialisierung betroffenen Regionen dringend gefördert werden muss. Bereits im Vorfeld muss es ein soziales Sicherheitsnetz, Umschulungsangebote und mehr Ressourcen geben. Eine konkrete Forderung ist die Ausweitung des bestehenden EU-Rahmens zu Just Transition, der bis 2027 den gerechten Übergang fördern soll, aber unzureichende Wirkung entfaltet. Eine Verlängerung und Aufstockung der Mittel sind dringend erforderlich.
Zukunftsperspektiven
Während die EU-Kommission in der Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit der EU die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Vordergrund stellt, betont Draghi in seinem Bericht, dass Produktivität auf Innovation beruht und diese entscheidend von Investitionen in Humankapital abhängt. Geschlossen wurde der Runde Tisch mit der Definition von Wettbewerbsfähigkeit des österreichischen Produktivitätsrats: Nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit beruht auf einer Reihe von Institutionen, Richtlinien und Faktoren, die sicherstellen, dass eine Wirtschaft langfristig produktiv bleibt und gleichzeitig soziale und ökologische Nachhaltigkeit gewährleisten.
Die Diskussion verdeutlichte einmal mehr die Komplexität und Vielfältigkeit der Herausforderungen der doppelten Transformation. Der in Kürze erscheinende ÖFSE-Bericht ist ein guter Ausgangspunkt für Ideen, wie diesen Herausforderungen mit einer progressiven Agenda begegnet werden kann. Ob der Clean Industrial Deal der EU-Kommission, der am 26. Februar präsentiert werden soll, manches davon aufgreift, wird sich demnächst zeigen.
Weiterführende Informationen
EU-Kommission: Ein EU-Kompass, um wieder wettbewerbsfähig zu werden
AK EUROPA: Polen übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft. Sicherheit im Mittelpunkt
AK EUROPA: Das Ringen der EU um Wettbewerbsfähigkeit. Ein Interview mit Andrew Watt, Generaldirektor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts
AK EUROPA: Über die Kapitalmarktunion. Ein Gespräch mit dem Chief Economist von Finance Watch, Thierry Philipponnat
AK EUROPA: Industriepolitik (2021)
Rat: Die Industriepolitik der EU
Rat: Speech by President António Costa at the official opening of the Polish presidency of the Council of the European Union (nur Englisch)
POLITICO: EU’s Clean Industrial Deal to cover 6 themes from energy prices to trade (nur Englisch)
Euractiv: Revolutionary ‘Clean Industrial Deal’ needed for a sustainable and competitive Europe (nur Englisch)
Project Syndicate: The EU Needs a Strong Clean Industrial Deal (nur Englisch)
FEPS: A Unified Industrial Strategy for the EU (nur Englisch)