Nachrichten
ZurückEuropa steht vor einem enormen Investitionsbedarf, um große Herausforderungen wie die Klimakrise zu bewältigen und – wie konstant gefordert – wettbewerbsfähig zu werden. Oft wird privates Kapital als entscheidende Kraft hervorgehoben, doch es bleibt die Frage, welche Rolle die Kapitalmarktunion in diesem Zusammenhang realistischer Weise spielen kann. Wie können wir ausreichende öffentliche Investitionen mobilisieren, um die Kosten für Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen zu decken? Thierry Philipponnat, Chief Economist beim Brüsseler Thinktank Finance Watch, gab uns einen Einblick in seine Forschungsergebnisse.
Im ersten Teil dieses Interviews haben wir uns mit den Fortschritten, Herausforderungen und Risiken der Kapitalmarktunion (CMU) befasst. In dieser Ausgabe gehen wir nochmals etwas mehr in die Tiefe und setzen uns mit dem Grund für den derzeitigen Fokus auf die CMU auseinander, nämlich dem enormen Investitionsbedarf in Europa. Diesen Sommer veröffentlichte Finance Watch einen bedeutenden Bericht mit dem Fazit, dass privates Kapital allein nicht in der Lage sein wird, den Investitionsbedarf in Europa zu decken. Diese Schlussfolgerung wurde seitdem auch in anderen bedeutsamen Zusammenhängen gezogen, wie etwa im Draghi-Bericht. Wie geht es also weiter und wie können wir diese finanziellen Herausforderungen bewältigen? Wir sprachen weiter mit Thierry Philipponnat, Chief Economist bei Finance Watch, über mögliche Auswege aus Europas Investitionskrise.
AK EUROPA: Die Kapitalmarktunion wird oft als entscheidender Schritt für die finanzielle Zukunft der EU dargestellt. In Ihrem Bericht heißt es jedoch, dass selbst ihre vollständige Umsetzung den Erwartungen nicht gerecht werden könnte. Könnten Sie Ihre Ergebnisse näher erläutern?
Philipponnat: Alles begann damit, dass wir von vielen führenden Akteuren auf EU-Ebene hörten, dass wir, da wir in der EU prinzipiell über ausreichend Investitionskapital verfügen, nur die Kapitalmarktunion vollenden müssten. Wenn wir das täten, wäre die Sache erledigt. Die Grundannahme für unseren Bericht war eine erfolgreiche Vollendung der Kapitalmarktunion, auch wenn wir von dieser offensichtlich noch sehr weit entfernt sind. Würde also eine Vollendung der Kapitalmarktunion bedeuten, dass wir das Problem gelöst haben, dass wir das gesamte benötigte Geld sozusagen gefunden haben? Das Fazit unseres Berichts lautet, dass im besten Fall nur ein Drittel des benötigten Geldes aus den Kapitalmärkten kommen kann, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Privates Geld wird nur dann fließen, wenn die Rendite hoch genug ist, um das bei der Investition bewertete Risiko abzudecken. Keine angemessene Rendite, kein privates Geld.
AK EUROPA: Angenommen, es kommt zu einem erheblichen Investitionsdefizit, welche Folgen hätte das für die EU?
PHILIPPONNAT: Wir brauchen das Geld, um zentrale Infrastruktur aufzubauen, die wir zur Anpassung an den Klimawandel benötigen, beispielsweise zur Anpassung an den Anstieg des Meeresspiegels. Die Europäische Umweltagentur schätzt, dass der Anstieg des Meeresspiegels die EU-Wirtschaft jährlich eine Billion Euro kosten wird, das sind 6 % des EU-BIPs. Die Auswirkungen des Klimawandels auf das BIP werden enorm sein. Wir müssen in Infrastruktur investieren, um die EU-Wirtschaft vor diesem Risiko zu schützen. Diese Investitionen, so unerlässlich sie auch sind, werden allerdings kaum rentabel sein, da sie keine Cashflows generieren. Daher wird es keine privaten Gelder geben. Die Alternative wäre, dass das BIP der EU in 20 oder 30 Jahren allein aufgrund des steigenden Meeresspiegels um 6 % zurückgehen würde. Vor einem Jahr haben wir einen Bericht mit dem Titel „Finance in a hot house world“ veröffentlicht, in dem die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels bis 2070 auf 30% bis 50% geschätzt werden. Das ist ein Albtraum, nicht nur aus menschlicher und sozialer Sicht, sondern auch in Bezug auf die öffentlichen Einnahmen. Wir müssen investieren, und die Kapitalmarktunion kann Teil der Lösung sein, aber die restlichen zwei Drittel des benötigten Geldes müssen wir mit Hilfe der öffentlichen Hand aufbringen.
AK EUROPA: Sie bezeichnen öffentliche Mittel als unerlässlich. Wie können wir diese öffentlichen Mittel mobilisieren?
PHILIPPONNAT: Unsere Regeln bezüglich öffentlicher Gelder sind heutzutage nicht mehr angemessen. In unserem Bericht schlagen wir drei mögliche technische Lösungen vor. Wir müssen Druck machen und sagen: Hey, wir haben keine Wahl. Wir müssen uns an diese Welt anpassen, die sich so dramatisch und so schnell verändert. Die erste technische Lösung besteht darin, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, zu ändern. Wir wissen, dass dies eine sehr schwierige Debatte ist, aber diese Regeln sind absurd. Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für sie, sie sind nur eine Momentaufnahme des Zustands der EU-Finanzen vor 35 Jahren. Damals lag der EU-Durchschnitt bei 56 % Verschuldung, also wurde eine Obergrenze von 60 % gezogen. Frankreich hatte ein öffentliches Defizit von 2,6 %, also entschied man sich für 3 %, um etwas Spielraum zu behalten. Wenn wir diese Regeln weiterhin anwenden, wird uns das zum Verhängnis. Die zweite mögliche Lösung, und wir freuen uns sehr, dass der Draghi-Bericht diese erwähnt, ist die Möglichkeit, auf EU-Ebene Schulden aufzunehmen. Auch das ist hochpolitisch. Drei Stunden nach der Vorstellung des Draghi-Berichts gab Deutschland, also Herr Lindner aus dem Finanzministerium, eine Erklärung ab, in der es hieß, dass wir auf keinen Fall auf EU-Ebene gemeinsame Schulden ausschütten werden. Die dritte technische Möglichkeit ist die monetäre Finanzierung. Wir wissen, dass das ebenso ein großes Tabu ist.
AK EUROPA: Warum ist die monetäre Finanzierung in wirtschaftlichen Diskussionen ein so kontroversielles Thema?
PHILIPPONNAT: Niemand behauptet, schon gar nicht wir, dass monetäre Finanzierung unter allen Umständen gut ist. Aber dass monetäre Finanzierung heute in den EU-Verträgen völlig verboten ist, ergibt keinen Sinn. Erstens ist monetäre Finanzierung nichts Neues. Vor einem Jahrhundert, als Großbritannien eine Supermacht war, machte es enormen Gebrauch von monetärer Finanzierung. Die Vereinigten Staaten nutzen monetäre Finanzierung systematisch, insbesondere in Kriegszeiten. Selbst Deutschland hat in den 1980er Jahren monetäre Finanzierung eingesetzt. Zweitens stimmt es nicht, dass monetäre Finanzierung zwangsläufig inflationär ist. Die Geldschöpfung durch Zentralbanken war in den letzten 35 Jahren enorm, um die Finanzmärkte zu stützen. Aber die Inflation, die wir in den letzten drei bis vier Jahren erlebt haben, ist kein monetäres Phänomen, sondern ein Angebotsschock, der durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verursacht wurde und sich auf die Lebensmittel- und Energiepreise ausgewirkt hat. Drittens gehen wir davon aus, dass wir kompetente Zentralbanker:innen haben, denen man mächtige Finanzinstrumente anvertrauen kann.
Wir müssen erwachsen werden, wir sind das einzige Rechtssystem auf der Welt, in der monetäre Finanzierung gesetzlich verboten ist. Aufgrund des Verbots monetärer Finanzierung öffentlicher Defizite durch Zentralbanken in der EU haben wir das sogenannten Quantitative Easing (QE), quantitative Lockerung. Privatbanken kaufen die Schulden auf dem Primärmarkt und verkaufen sie dann auf dem Sekundärmarkt an die Europäische Zentralbank weiter. Im Grunde handelt es sich hierbei um „monetäre Finanzierung“ über Umwege. Durch diese Praxis entstehen enorme Reserven für Privatbanken, und diese Reserven werden verzinst. Im Jahr 2023 belief sich die Verzinsung in der EU auf 140 Milliarden Euro oder ein Prozent des BIP der EU. Wenn wir also schon Geld schöpfen, können wir das genauso gut direkt für die öffentlichen Haushalte tun.
AK EUROPA: Wie realistisch ist es, diese Ideen zur Finanzierung des enormen Investitionsbedarfs zu verfolgen, angesichts häufig vorgeschlagener Austeritäts- und Sparmaßnahmen?
PHILIPPONNAT: Die Sparsamen sind nicht diejenigen, die glauben, sie seien es. Ich denke, wir sind die Sparsamen, die erkennen, dass wir morgen noch mehr verlieren werden, wenn wir heute nicht investieren. Wenn wir nichts tun, werden sich unsere Defizite noch weiter verschlechtern. Was die Anpassung an den Klimawandel betrifft, so gibt es einige faszinierende Studien, die zeigen, dass sich Investitionen in Anpassungsmaßnahmen etwa im Verhältnis 1:10 rentieren. Wenn Sie heute einen Euro investieren, sparen Sie morgen zehn Euro. Wer ist also der/die Sparsame? Sind es jene, die heute keinen Euro investieren wollen, oder jene, die sagen: „Ich möchte zehn Euro für morgen sparen“?
Dieses Interview wurde original auf Englisch geführt und ausschließlich die englische Version wurde von Finance Watch autorisiert. Die in diesem Interview geäußerten Meinungen und Ansichten sind ausschließlich die von Finance Watch und spiegeln nicht die Positionen der AK wider. Dieser Artikel ist der zweite Teil eines zweiteiligen Interviews. Der erste Teil befasste sich mit der Kapitalmarktunion.
Weiterführende Information
AK EUROPA: Der Investitionsbedarf in der EU ist enorm. Wie soll er finanziert werden?
Finance Watch: Bericht - Europe’s coming investment crisis (nur Englisch)
AK EUROPA: Der Draghi-Bericht. Wettbewerbsfähigkeit im Zentrum der EU Politik
Finance Watch: Finance Watch Challenges Draghi Report on Funding and Financial Stability (nur Englisch)
EEA: Europäische Bewertung der Klimarisiken