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ZurückDass die EU einen enormen Investitions- und damit Finanzierungsbedarf hat, um u.a. die Ziele des Green Deal zu erreichen, steht außer Zweifel. Um ihn privatwirtschaftlich zu decken, muss jedoch die Rendite stimmen. Daraus erwächst eine Reihe an Fragen, die derzeit umfassend diskutiert werden: Was kann die Kapitalmarktunion leisten? Wie hoch kann und soll dabei der öffentliche Anteil zur Abfederung sein? Wie wird er verteilungsgerecht aufgebracht, sodass kleine und mittlere Einkommen nicht weiter belastet werden?
Über den enormen Investitionsbedarf der EU herrscht Einigkeit. In der Strategischen Vorausschau 2023 der EU-Kommission wird davon ausgegangen, dass über 620 Milliarden Euro jährlich zusätzlich benötigt werden, um die Klimaziele des Green Deal und die Energieziele von REPowerEU zu erreichen. Weiterer massiver Investitionsbedarf wird im Zuge des digitalen Übergangs und in der Verteidigungspolitik gesehen. In der Strategischen Agenda 2024 -2029 wird zudem auf die Notwendigkeit gemeinsamer Investitionsanstrengungen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU verwiesen. Für die Finanzierung sollen öffentliche und private Mittel zum Einsatz kommen. Wie hoch der jeweilige Anteil sein soll, wie das Risiko verteilt wird und wie die konkrete Umsetzung erfolgt, ist aber keineswegs klar.
Spielraum der Mitgliedstaaten ist begrenzt
Ein schlechtes Vorzeichen für eine umfassende öffentliche Finanzierung stellt die neue wirtschaftspolitische Steuerung der EU dar. Zwar ist es ein Ziel, das Investitionsniveau in der EU zu erhöhen, und gegenüber den alten Fiskalregeln wurde der Spielraum auch erweitert. Die Möglichkeiten der Länder mit hohen Schulden und/oder Defiziten bleiben aber stark eingeschränkt. Diese müssten insbesondere nach Auslaufen des Aufbau- und Resilienzfazilität die laufenden Ausgaben deutlich kürzen, um die notwendigen Investitionen leisten zu können. Der Think Tank Bruegel warnt davor, dass die neuen Regeln notwendige Zukunftsinvestitionen übermäßig beschränken werden. Von gewerkschaftlicher Seite wird sogar eine Neuauflage der Austeritätspolitik befürchtet.
Eine „Kommission der Investitionen“. Was kann der EU-Haushalt beitragen?
Die EU-Kommission setzt sich in den Politischen Leitlinien 2024 – 2029 das Ziel, eine „Kommission der Investitionen“ zu werden. In enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) sollen öffentliche Investitionen maximiert und für privates Kapital eine Hebelwirkung und Risikominderung erzielt werden. Das öffentliche Beschaffungswesen solle besser genutzt und effizienter gestaltet, die Verwendung der Mittel aus dem (2026 auslaufenden) Wiederaufbaufonds NGEU sichergestellt werden. Aufhorchen lässt die Ankündigung, dass der EU-Haushalt des kommenden Mehrjährigen Finanzrahmens aufgestockt werden soll. „Um eine ausreichende und nachhaltige Finanzierung unserer gemeinsamen Prioritäten sicherzustellen“, werden neue Eigenmittel benötigt, so die EU-Kommission. Mit Hilfe eines neuen Europäischen Fonds für Wettbewerbsfähigkeit soll in „strategische Technologien in allen Bereichen von KI bis hin zu Weltraum, von sauberer Technologie bis hin zu Biotechnologie“ investiert werden.
Von der „Kapitalmarktunion“ zur „Spar- und Investitionsunion“?
Ein zentraler Punkt ist auch die Vertiefung der Kapitalmarktunion und der Ausbau der EU zu einer Spar- und Investitionsunion, um private Finanzierung zu fördern. Enrico Letta zog in seinem Bericht zum EU-Binnenmarkt im März 2024 den Schluss: „Wenn wir keinen Weg finden, private Gelder zur Finanzierung des grünen Übergangs und unserer Sicherheitsbedürfnisse einzusetzen, wird es sehr kompliziert sein, eine Lösung zu finden, die nur auf öffentlichen Geldern basiert.“ (eigene Übersetzung) In diesem Sinn schlägt er eine Vielzahl von Maßnahmen vor, um die EU zu einer „Spar- und Investitionsunion“ zu machen. Auch der Europäische Rat verweist Ende Juni 2024 auf die „(…) Dringlichkeit und Bedeutung der Kapitalmarktunion, wenn es darum geht, die erheblichen privaten Investitionen zu mobilisieren, die zur Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen erforderlich sind.“ Die EU-Kommission schätzt, dass eine vollendete Kapitalmarktunion zusätzliche Investitionen in Höhe von 470 Mrd. Euro pro Jahr anziehen könnte. Sie kündigt Vorschläge für „risikoabsorbierende Maßnahmen“ an, um es europäischen Kapitalgebern „zu erleichtern, schnell wachsende Unternehmen zu finanzieren.“ Ziel ist es, private Ersparnisse in der EU finanztechnisch zu hebeln und Ersparnisse aus der ganzen Welt anzuziehen.
Die Grenzen der privaten Finanzierung
Der Brüsseler Think Tank Finance Watch beschäftigte sich mit der Finanzierungsfrage in einer im Juli 2024 veröffentlichten Studie mit dem Titel „Europe´s coming investment crisis. What if capital markets could only meet a third of Europe’s essential funding needs”. Dabei kommt man zum Schluss, dass über Kapitalmärkte im besten Fall nur ein Drittel der notwendigen strategischen Investitionen finanziert werden können. Einem Finanzierungsbedarf von 800 Mrd. bis 1,6 Bio. Euro jährlich stünden über den Kapitalmarkt finanzierbare Investitionen von 300 bis 600 Mrd. Euro gegenüber.
Tatsächlich steht und fällt die private Finanzierung mit der erwarteten Rendite. Fällt diese aus Sicht der Investoren zu gering aus, gibt es keine Finanzierung. Angesichts eines hohen Volumens von privatem Veranlagungskapital stünde bei entsprechender Rendite einer Finanzierung über den Kapitalmarkt nichts im Weg. Allerdings erbringt aber gemäß der Studie ein großer Teil der oft riskanten Investitionen, die zur Verringerung der Klimakrise erforderlich sind, keinen ausreichenden finanziellen Ertrag. Werden die notwendigen Investitionen jedoch nicht getätigt, warnt die Studie erst recht vor einer fiskalischen Zeitbombe, die den Rahmen der öffentlichen Finanzen sprengen könnte. Die Europäischen Institutionen seien gefordert, eine pragmatische Diskussion über die Finanzarchitektur der EU einzuleiten, um die von ihr selbst zu Recht formulierten Ziele zu erreichen.
Finanzierung als Basis für eine gute Zukunft – Ein Gesamtbild ist notwendig
Es wird deutlich, dass es bei der Finanzierung des hohen Investitionsbedarfs vieles zu bedenken gibt. Auch die Steuerpolitik der Mitgliedstaaten, die Höhe der EU-Eigenmittel sowie die Folgewirkungen der jeweiligen Finanzierungsart sind zentral. Besonders sensibel ist der Bereich der sozialen Infrastruktur, wo private gewinnmaximierende Geschäftsmodelle ein Risiko für das Gemeinwohl darstellen. Zudem führt öffentliche Finanzierung nicht nur zu Kosten, sondern auch zu öffentlichem Vermögen. Ein fairer grüner und digitaler Übergang bedeutet jedenfalls auch, dass den Bezieher:innen kleiner und mittlerer Einkommen weder die Finanzierungskosten noch das Risiko einseitig aufgebürdet werden dürfen.
Weiterführende Informationen
Enrico Letta: Much more than a market (nur Englisch)
AK EUROPA: Stellungnahme zum Letta-Bericht über die Zukunft des Binnenmarktes
AK EUROPA: Kapitalmarktunion. Vorsicht ist angebracht!
A&W Blog: EU-Binnenmarkt in der nächsten EU-Legislaturperiode. Analyse zum Letta-Bericht