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ZurückAktuell drehen sich die Debatten auf EU-Ebene stark um wirtschaftspolitische Themen. Dies zu Recht, denn im Zuge der Krisen stellen sich viele Fragen neu und es gibt erheblichen Handlungsbedarf. Der Letta-Bericht „Weit mehr als ein Markt“ bietet eine Reihe von Vorschlägen zur Neugestaltung des EU-Binnenmarkts an, jedoch vor allem aus Unternehmensperspektive. Die Arbeiterkammer hat in ihrem Positionspapier nicht nur umfassend Stellung genommen, sondern auch Empfehlungen für eine sozial-ökologisch nachhaltige und langfristig stabile EU-Wirtschaft gegeben.
Aktuell beherrschen zwei Berichte die Debatte auf EU-Ebene. Dabei handelt es sich zum einen um den Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta über den EU-Binnenmarkt mit dem Titel „Weit mehr als ein Markt“, welcher im April 2024 veröffentlicht wurde. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom April wird dafür plädiert, die Arbeiten zu den darin enthaltenen Empfehlungen voranzubringen. Der Binnenmarkt spielt auch im Rahmen der Strategischen Agenda eine zentrale Rolle, ebenso wie die EU-Wettbewerbsfähigkeit. Diesem Thema wird sich wiederum der Bericht von Mario Draghi, ehemals EZB-Präsident und ebenso italienischer Ministerpräsident, widmen, welcher im September 2024 veröffentlicht werden soll. Die Empfehlungen aus den beiden Berichten haben beträchtlichen Einfluss auf die EU-Politik der kommenden fünfjährigen Legislaturperiode. Vor diesem Hintergrund hat die Arbeiterkammer ein umfassendes Positionspapier erstellt.
Die Interessen der Unternehmen im Fokus
Regulierungen, die einen hohen gesellschaftlichen Wert haben und sich auf soziale und ökologische Standards beziehen, werden oft einseitig als überflüssige Bürokratie und Verwaltungslast dargestellt. Unter dem inzwischen zum Kampfbegriff gewordenen Schlagwort „Gold-Plating“ wird gegen Regelungen Stimmung gemacht, die über die in den EU-Richtlinien festgelegten Minimalstandards hinausgehen, beispielsweise beim Schutz von Arbeitnehmer:innen, Verbraucher:innen und Klima. Im Letta-Bericht wird vorgeschlagen, so gut wie alle EU-Gesetze nur noch in Form von Verordnungen zu beschließen. Damit fiele in den Mitgliedstaaten der bei Richtlinien gegebene Umsetzungsspielraum weg, da Verordnungen eins zu eins angewendet werden müssen. Dies droht vor allem zu Lasten der Arbeitnehmer:innen zu gehen und wird von der AK klar abgelehnt.
Vor allem Klein- und Mittelunternehmen (KMU), also fast allen Unternehmen, möchte man damit entgegenkommen. Laut EU-Definition gelten nämlich 99,8 Prozent der Unternehmen als KMU. Bereits im Dezember 2023 hat die EU-Kommission eine Mitteilung mit dem Titel „Entlastungspaket für KMU“ veröffentlicht. Dieses beinhaltet unter anderem eine eigens beauftragte Person für KMU, die der EU-Kommissionspräsidentin zugeordnet ist und den Sitzungen des Regulatory Scrutiny Board beiwohnen soll. Von diesem Board geht ein erheblicher Einfluss auf die EU-Gesetzgebung aus. Auch in anderen Bereichen wird fortgesetzt, was bereits seit längerer Zeit begonnen wurde. Eine wichtige Rolle im Letta-Bericht spielt auch die Schaffung einer Spar- und Investitionsunion, wo es um die Vertiefung der Kapitalmarktunion geht. Ziel ist es, den Zugang zu Kapital für KMU zu erleichtern. Aus Sicht der AK muss dabei aber der Finanzmarktstabilität und den Interessen der Arbeitnehmer:innen und Konsument:innen höchste Priorität eingeräumt werden. Eine weitere Empfehlung des Berichts bezieht sich auf die Reduktion der Berichtspflichten für Unternehmen.
Forschung, Innovation und Ausbildung. Konkrete Maßnahmen notwendig
Spektakulär klingt die Forderung nach einer fünften Binnenmarkt-Freiheit für Forschung, Innovation und Ausbildung. Tatsächlich gab es aber auch schon bisher keine regionalen Einschränkungen für Forschungsprojekte, Wissen oder Forschende selbst. Der Bericht wartet zudem mit Vorschlägen auf, die auch ohne „fünfte Freiheit“ durchführbar sind. Dazu gehören Empfehlungen zur Steigerung von Investitionen in die digitale Infrastruktur oder zur Einführung einer Plattform für den freien Zugang zu Forschungsergebnissen und Daten („European Knowledge Commons“). Für Arbeitnehmer:innen besonders interessant ist der Abschnitt zu digitalen Kompetenzen. Leider findet sich hier wenig Konkretes, wie diese Aus- und Weiterbildung gestaltet und finanziert werden soll. Interessant sind die Forderungen nach einem eigenen europäischen Studienabschluss, einem Ausbau europäischer Austauschprogramme und nach einem Recht auf ein „Erasmus for all“.
Vorschläge zur EU-Handelspolitik hochbedenklich
Das Kapitel zur Handelspolitik ist leider voll mit Andeutungen, dass Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards in der Handelspolitik in Zukunft de facto keine Rolle spielen sollen. Außerdem soll auf Interimsabkommen gesetzt werden, bei denen eine Befassung der nationalen Parlamente nicht mehr notwendig ist. Aufhorchen lässt dann auch der Vorschlag, einen transatlantischen Binnenmarkt mit den USA zu schaffen. Dies könnte einen erheblichen Druck auf EU-Standards im Sozial-, Arbeits- und Umweltbereich bedeuten. Gerade wettbewerbspolitisch wäre das kontraproduktiv und würde EU-Unternehmen weiter unter Druck bringen.
AK sieht Letta-Report kritisch. Die soziale Dimension ist kein Nebenschauplatz!
Die AK begrüßt den Letta-Bericht als Grundlage für eine tiergehende Diskussion zur Zukunft des Binnenmarktes. Es finden sich zum Beispiel in den Bereichen Forschung und Bildung einige gute Vorschläge. Insgesamt ist der Bericht jedoch zuallererst auf Unternehmensinteressen abgestimmt und enthält mehrere hochproblematische Forderungen. Zwar werden soziale Aspekte angesprochen, jedoch bleibt die soziale Dimension insgesamt ein Nebenschauplatz. Demgegenüber müssen die Interessen der Arbeitnehmer:innen ins Zentrum der EU-Wirtschaftspolitik rücken. Schließlich setzen diese den ökologischen und digitalen Wandel um und schaffen die Basis für eine langfristig stabile und nachhaltige Wirtschaft.
Die AK fordert daher die Schaffung einer fünften Grundfreiheit, die sich auf das soziale Fortschrittsprotokoll und den Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping bezieht. Die Rechte der Arbeitnehmer:innen müssen Vorrang vor den Marktfreiheiten haben. Anstatt unter dem Titel „Bürokratieabbau“ wichtige Standards zu unterminieren, wäre es sinnvoller, die EU-Regelungen regelmäßig auf ihre Aktualität zu prüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Die Europäische Säule sozialer Rechte soll umgesetzt, die Leistungen der Daseinsvorsorge als wesentlicher Bestandteil eines funktionierenden Binnenmarktes begriffen und verpflichtende Sozialstandards in die öffentliche Auftragsvergabe einbezogen werden.
Weiterführende Informationen
Enrico Letta: Much more than a market (nur Englisch)
AK EUROPA: Stellungnahme zum Letta-Bericht über die Zukunft des Binnenmarktes AK EUROPA: Kapitalmarktunion. Vorsicht ist angebracht!
AW Blog: EU-Binnenmarkt in der nächsten EU-Legislaturperiode. Analyse zum Letta-Bericht