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ZurückAm 18. Juli 2024 wurde Ursula von der Leyen als EU-Kommissionpräsidentin für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Die Wahl fand auf der Grundlage der von ihr präsentierten Politischen Leitlinien statt. Diese legen einen starken Fokus auf Unternehmen, Wettbewerbsfähigkeit und Deregulierung. Sie enthalten aber auch einige Punkte zur Stärkung der sozialen Dimension der EU.
Nachdem Ursula von der Leyen am 28. Juni 2024 vom Europäischen Rat als EU-Kommissionspräsidentin für eine zweite Amtszeit nominiert worden war, musste sie sich der Wahl im EU-Parlament stellen. Vor der Abstimmung präsentierte sie in einer Rede ihre Politischen Leitlinien für die nächste EU-Kommission 2024 – 2029. Um die erforderliche absolute Mehrheit von mindestens 361 der 720 Abgeordneten für sich zu gewinnen, machte sie inhaltliche Zugeständnisse an die Fraktionen links der Mitte. Letztlich stimmten neben der EVP die S&D-Fraktion, die Grünen und Renew mehrheitlich für ihre Wiederwahl.
Herausforderungen in der kommenden EU-Legislaturperiode
In ihrer Rede im EU-Parlament ging Ursula von der Leyen zunächst auf die Herausforderungen ein, die es in der kommenden EU-Legislaturperiode zu bewältigen gilt. Sie sprach die große Verunsicherung vieler Menschen aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungs- und Wohnungskosten, Krieg, Klimakrise und Spaltung der Gesellschaft an. Europa könne den Wandel nicht aufhalten, es könne sich aber dafür entscheiden, ihn zu nutzen und in ein neues Zeitalter des Wohlstands zu investieren und damit die Lebensqualität zu verbessern.
Wettbewerbsfähigkeit als Top-Priorität
Die erste von sieben Prioritäten der Politischen Leitlinien ist die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Hier wird ein starker Fokus auf die Unternehmensperspektive und auf (sogenannten) Bürokratieabbau gelegt. Damit geht die Gefahr eines erhöhten Drucks auf soziale, arbeitsrechtliche und umweltpolitische Standards einher. Die Maßnahmen in diesem Bereich werden genau zu beobachten sein. Zum Beispiel wird bei den geplanten „Umsetzungsdialogen mit Interessensträgern“ darauf zu achten sein, dass auch die Seite der Arbeitnehmer:innen eingebunden wird und dass dem „Wettbewerbscheck“ nicht etwa arbeitsrechtliche Standards zum Opfer fallen.
Für die ersten 100 Tage wird ein neuer Deal für eine saubere Industrie (Industrial Clean Deal) angekündigt, der darauf abzielen soll, die europäische Industrie durch Investitionen gegenüber der globalen Konkurrenz wettbewerbsfähig zu machen. Gleichzeitig soll er den Weg zur Erreichung des neuen Klimaziels 2040 (Emissionsreduktion um 90% gegenüber 1990) ebnen. Positiv ist dabei das Bekenntnis zu hochwertigen Arbeitsplätzen, einem „gerechten Übergang für alle“ und zur Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern. Zur Bewältigung des Arbeits- und Fachkräftemangels wird unter anderem eine Europäische Strategie für die berufliche Aus- und Weiterbildung in Aussicht gestellt.
Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit soll die Produktivität in der EU gesteigert werden. In diesem Zusammenhang wird auf die Notwendigkeit der Verbreitung digitaler Technologien hingewiesen und eine Steigerung der Investitionen, insbesondere in Pioniertechnologien wie Hochleistungsrechner, angekündigt. Ziel sei es, im Bereich der KI-Innovationen die globale Führungsrolle zu übernehmen. Zu begrüßen ist die angekündigte Initiative zur Untersuchung der Auswirkungen der Digitalisierung (z.B. KI-Management und Telearbeit) auf die Arbeitswelt und die psychische Gesundheit.
Private und öffentliche Mittel zur Deckung des massiven Investitionsbedarfs
Interessant ist die Ankündigung, die kommende EU-Kommission werde eine „Kommission der Investitionen“ sein. Es sollen unter anderem die Mittel aus dem (2026 auslaufenden) Wiederaufbaufonds NGEU verwendet werden. Darüber hinaus wird ein Vorschlag für einen neuen, aufgestockten Haushalt im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen angekündigt, für den neue Eigenmittel eingemahnt werden. Hier darf man auf die Umsetzung gespannt sein, wobei insbesondere auf verteilungspolitische Fairness zu achten sein wird.
Darüber hinaus sollen in Zusammenarbeit mit der Europäischen Investitionsbank (EIB) öffentliche Investitionen maximiert werden. Auch die im Letta-Bericht vorgeschlagene Spar- und Investitionsunion wird angesprochen. Hier ist erhöhte Vorsicht geboten, damit die mit Investitionen einhergehenden Risiken nicht letztlich von Bezieher:innen kleiner und mittlerer Einkommen getragen werden. Die Wahrung der Finanzmarktstabilität und ein solides Angebot an öffentlichen Dienstleistungen müssen Hand in Hand gehen. Die nächste EU-Kommission wird sich nicht zuletzt daran messen lassen müssen, welche Bereiche bei den vielen angekündigten Investitionen Priorität erhalten. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, wie sich die überarbeitete wirtschaftspolitische Steuerung und insbesondere die neuen Fiskalregeln auswirken werden.
Soziale Versprechen
In den Politischen Leitlinien wird ein neuer Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte angekündigt. Weiters wird ein Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze in Aussicht gestellt, der zu fairen Löhne und guten Arbeitsbedingungen beitragen soll, insbesondere durch die Ausweitung von Tarifverhandlungen. Aufhorchen lässt auch ein Plan für erschwingliches Wohnen und die Ernennung eines Kommissars oder einer Kommissarin, der oder die (unter anderem) für Wohnen zuständig sein wird. Ebenso wird die Ernennung eines Kommissionsmitgliedes für Gleichheitspolitik und eine neue Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter angekündigt sowie eine Strategie zur Bekämpfung von Armut.
Fazit
Neben den beiden erwähnten Prioritäten Wettbewerbsfähigkeit und Soziales sind Sicherheit und Verteidigung, die Erhaltung der Lebensqualität, der Schutz der Demokratie, Europa in der Welt und die Vorbereitung der Zukunft der EU weitere Prioritäten. Die sozialen und ökologischen Aspekte in den Politischen Leitlinien stehen in einem Spannungsfeld zu Ankündigungen wie der geplanten „Vereinfachung von Rechtsvorschriften“ und zum „Bürokratieabbau“. Die Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) Esther Lynch meint dazu: „Es besteht die Gefahr, dass die positiven sozialen Maßnahmen durch einen Schwerpunkt (…) auf Deregulierung untergraben werden könnten, was die wirtschaftliche Instabilität weiter verstärken könnte (…).“. Auch die AK warnt vor einer einseitigen Deregulierungsagenda. Aus Sicht der AK ist eine nachhaltige und stabile EU-Wirtschaft nur dann erreichbar, wenn die Interessen der Arbeitnehmer:innen und Konsument:innen in den Fokus der EU-Politik insgesamt rücken.
Weitere Informationen
EU-Kommission: Politische Leitlinien für die nächste EU-Kommission 2024 – 2029
ETUC: Social promises must be turned into directives (nur Englisch)