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ZurückBei der außerordentlichen Sitzung des Europäischen Rates im April trafen sich die Staats- und Regierungschef:innen der Mitgliedstaaten, um zu diskutieren, wie die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft in Zukunft gesichert werden kann. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Binnenmarkt. Der im Rahmen des EU-Gipfels vorgelegte „Letta-Bericht“ enthält zwar einige gute Ansätze, konzentriert sich aber einseitig auf die Unternehmensseite. Die soziale Dimension und die Perspektive der Arbeitnehmer:innen werden hingegen kaum berücksichtigt.
Neben den geopolitischen Entwicklungen stand beim Europäischen Rat im April die Wirtschaft im Zentrum. Es wurde ein „Neuer Deal für die europäische Wettbewerbsfähigkeit“ präsentiert. Dieser hat zum Ziel, nachhaltiges und integratives Wachstum zu steigern, für Innovation und Widerstandsfähigkeit zu sorgen und den Übergang zu digitaler Souveränität und Klimaneutralität zu begünstigen. Im Zuge des Rates präsentierte Enrico Letta, Präsident des Jacques-Delors-Instituts, seinen lange erwarteten Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarkts. Auch der Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit Europas von Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank und ehemaliger italienischer Ministerpräsident, der im Juni erscheinen soll, war Thema.
Der Tenor in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates: Europa benötige dringend einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel. Zentrale Themen des „Neuen Deals für die europäische Wettbewerbsfähigkeit“ sind wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit, industrielle Erneuerung, globale Wettbewerbsfähigkeit, die technologische Führungsrolle der EU und ihre Attraktivität als Wirtschaftsstandort. Ein vollständig integrierter Binnenmarkt soll dabei eine zentrale Rolle spielen. Der Europäische Rat benennt die „wichtigsten Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit“ und fordert, die Arbeit dort „entschieden und zügig“ voranzubringen.
Vertiefung des Binnenmarkts und Vollendung der Kapitalmarktunion
Bereits im Februar hatte Letta die ersten Zwischenergebnisse seines Berichts präsentiert und dabei betont, dass die Integration des Binnenmarkts in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Energie und digitale Kommunikation zentral für zukünftiges Wirtschaftswachstum sei. Die Binnenmarktfreiheiten sollen um eine fünfte Dimension, nämlich Forschung und Innovation, erweitert werden. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates spricht man sich für eine Beseitigung verbleibender Markthindernisse aus, unter anderem bei der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen.
Auch die seit 10 Jahren im Raum stehende Vertiefung der Kapitalmarktunion wurde erneut aufgegriffen. Konkret werden Schritte in Richtung Harmonisierung des Insolvenzrechts, eine Neubelebung des Verbriefungsmarkts, mehr Finanzkompetenz der Bürger:innen und ein breiteres Angebot an grenzüberschreitenden Finanzprodukten, darunter auch Rentenprodukte für Kleinanleger:innen, vorgeschlagen. Ziel sei es, Ersparnisse in europäische Unternehmen fließen zu lassen und damit private Investitionen zu fördern, so der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel. Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedstaaten gab es vor allem rund um das Thema einer Stärkung der EU-Aufsichtsbehörden.
Industrie, Forschung und Innovation, Energie, Kreislaufwirtschaft und Digitales
Die Staats- und Regierungschef:innen fordern, dass die Industrie auf „wettbewerbsfähige Weise“ dekarbonisiert wird. Außerdem sollen der Wettbewerbsvorteil bei digitalen und sauberen Technologien ausgebaut, strategische Lieferketten diversifiziert und die Basis der europäischen Verteidigungsindustrie gestärkt werden. Es findet sich weiters ein Hinweis darauf, dass Investitionen in Forschung und Entwicklung erhöht werden sollen, um das Ausgabenziel von drei Prozent des BIP zu erreichen. Auch die „Verwirklichung einer echten Energieunion“ zur Sicherstellung der Versorgung mit „reichlicher, erschwinglicher und sauberer Energie“ sowie die „ehrgeizige Elektrifizierung unter Nutzung aller klimaneutralen und kohlenstoffarmen Lösungen“ werden angesprochen. Ebenso möchte man die Zirkularität der Wirtschaft steigern, etwa indem das Potential der Bioökonomie erschlossen wird. Durch die Verwirklichung eines „echten Binnenmarktes“ für digitale Dienste und Daten und die Erleichterung von Investitionen in die digitale Infrastruktur soll der digitale Wandel unterstützt werden.
„Bürokratieabbau“ - eine Gefahr für die soziale Dimension
Die EU-Kommission soll bei der Ausarbeitung neuer Rechtsvorschriften das Prinzip „Vorfahrt für KMUs“ anwenden und bei wichtigen Gesetzgebungsvorschlägen „Prüfungen der Wettbewerbsfähigkeit“ vornehmen, so der Europäische Rat. Eine „übermäßige Umsetzung“ der EU-Rechtsvorschriften solle vermieden werden. Letta argumentiert, dass für die Binnenmarktintegration Verordnungen gegenüber Richtlinien Vorrang haben sollten, denn der Einsatz von Richtlinien führe zu „Gold-Plating“. Damit sind Regeln im nationalen Recht gemeint, die bessere bzw. strengere Standards vorsehen als vom EU-Recht vorgegeben, zum Beispiel im Sozial- und Umweltbereich. Die Unternehmensseite stellt solche Regeln häufig als „Verwaltungskosten“ dar. Nach Letta würde damit auch der Binnenmarkt fragmentiert und die Wettbewerbsfähigkeit gehemmt.
Tatsächlich bringt der Vorschlag von Letta bzw. in den Schlussfolgerungen aber eine Gefahr für soziale und ökologische Standards oder bei Gewerkschafts- und Bürgerrechten. Mitgliedstaaten könnten daran gehindert werden, höhere Standards in der Arbeitswelt einzuführen. Wolfgang Katzian, Präsident des ÖGB und EGB, verweist auf die EU-Arbeitszeitrichtlinie als Beispiel und warnt davor, dass diese im schlimmsten Fall in Österreich nur noch vier statt fünf Wochen Urlaub pro Jahr bedeuten könne.
Was bedeutet das für Arbeitnehmer:innen?
Insgesamt enthalten die Schlussfolgerungen einige gute Ansätze, aber auch hochproblematische Aspekte. Keinesfalls darf sich aus der Vertiefung der Kapitalmarktunion eine Gefährdung der Finanzmarktstabilität ergeben. Der Fokus der Schlussfolgerungen liegt auf der weiteren Integration des Binnenmarktes und auf der Unternehmensseite. Demgegenüber ist von guten Löhnen und guten Arbeitsbedingungen, sozialer Sicherheit und einer fairen Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne kaum die Rede. Soziales kommt nur am Rande vor, nämlich vor allem dann, wenn es um die Qualifikation und Mobilität von Arbeitnehmer:innen geht. Es fehlt das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines neuen, ambitionierten sozialen Aktionsprogramms, um wesentliche Schritte in Richtung sozialen Fortschritts zu setzen.
Ähnliches gilt für die vorläufigen Prioritäten der strategischen Agenda für 2024-2029, die im Juni beschlossen werden soll. Dort sucht man Bekenntnisse zu einem umfassenden gerechten Übergang vergeblich. Langfristig wird die EU aber nur dann wirtschaftlich stark und wettbewerbsfähig sein, wenn die Arbeitnehmer:innen eingebunden werden und die sozial-ökologische Dimension des Binnenmarktes gegenüber den Marktfreiheiten deutlich gestärkt wird. Ein einseitiges Wettbewerbskonzept, das Arbeitnehmer:innen nicht umfassend berücksichtigt, wird nicht erfolgreich sein und stellt eine Gefahr für eine gute Zukunft der EU selbst dar.
Weiterführende Informationen:
AK Wien: EU-Marktfreiheiten in der Krise: 30 Jahre EU-Binnenmarkt – Zeit zum Feiern?
AK EUROPA: Kapitalmarktunion: Strategie für Kleinanleger:innen
AK EUROPA: Policy Brief: Kleinanlegerstrategie
Enrico Letta: Much More Than A Market