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ZurückNach mehreren Verzögerungen ist er nun da: Der Draghi-Bericht. Am Montag, den 9. September 2024, übergab Ex-EZB-Chef Mario Draghi seinen Bericht zur Zukunft Europas an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dabei schlägt er nicht weniger vor als eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung Europas. Er sieht eine existentielle Lage und befürchtet einen langsamen Niedergang des Kontinents, sollte es weitergehen wie bisher. Einigen Vorschlägen ist etwas abzugewinnen, vor allem wenn es um eine massive Steigerung von Investitionen geht. Deutliche Defizite gibt es jedoch im Hinblick auf die soziale Dimension. Beim Thema „Bürokratieabbau“ schrillen die Alarmglocken.
Der einzige Weg zu langfristiger Wettbewerbsfähigkeit führe über eine Abwendung von fossilen Brennstoffen und eine Hinwendung zu wettbewerbsfähiger Kreislaufwirtschaft. Die Transformation müsse fair ablaufen, und unsere Bemühungen um Wettbewerbsfähigkeit müssen Hand in Hand mit steigendem Wohlstand für alle in Europa gehen. Unter diesen beiden Bedingungen hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den ehemaligen EZB-Chef und italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi beauftragt, um inmitten mehrfacher Krisen eine Zukunftsvision für Europa zu skizzieren. Am 9. September legte dieser in seinem 400-seitigen Bericht einen Plan vor, um Europas Wettbewerbsfähigkeit langfristig sicherzustellen. Inhaltlich finden sich dabei über weite Strecken Parallelen mit dem Bericht des ebenfalls ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta.
Im Vergleich mit den USA fällt die EU laut Bericht wirtschaftlich zurück, und aktuelle Prognosen zeichnen kein optimistisches Bild. Die Anzahl der Beschäftigten werde in Europa ab 2030 jährlich um zwei Millionen schrumpfen und das BIP stagnieren, ab 2050 sogar zurückgehen. Um dem zu begegnen, braucht es laut Draghi eine Steigerung der Produktivität. Das Problem seien dabei weniger Lohnkosten als viel mehr fehlende Innovationskraft. Rechne man den High-Tech-Sektor weg, weise die EU sogar eine höhere Produktivität als die USA auf. Europa habe die Digitalisierung verschlafen und dabei sehr viel Potenzial an Produktivitätssteigerungen eingebüßt. Seit 2008 seien 30% der EU „Unicorn“ Start-ups, also Firmen mit vielversprechenden Innovationstechnologien, in die USA abgewandert.
Neue Industriestrategie
In seinem Bericht legt Draghi eine neue Industriestrategie vor, die sich in drei Hauptbereiche gliedert. Erstens gehe es darum, die Innovationslücke zu den USA zu schließen. Europa müsse ein Umfeld schaffen, das Innovation gezielt anzieht und hält. Unter anderem sollen Important Project of Common European Interest (IPCEI) gestärkt und auf innovative Technologien ausgeweitet werden. Zweitens brauche es eine Verknüpfung von Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Dekarbonisierung solle als große Chance für Wachstum verstanden werden. Er spricht sich für eine Entkopplung der Preise erneuerbarer Energie von denen von Erdgas aus, um Energiekosten sowohl für die Industrie als auch für Verbraucher:innen stark zu senken. Drittens solle man den Bereich Sicherheit aus- und damit Abhängigkeiten abbauen. Europa müsse eigenständiger und unabhängiger werden, sowohl in puncto Verteidigung als auch Rohstoffe. Draghi ruft zu mehr Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie auf und fordert Handelsabkommen mit ressourcenreichen Drittstaaten. Es gelte auf unfaire Handelspraktiken zu reagieren und europäische Lieferketten abzusichern. Vieles davon passiere bereits auf der Ebene der Mitgliedstaaten, ein koordiniertes Agieren als Gemeinschaft sei jedoch essenziell.
Massiver Investitionsschub und die Frage der Finanzierung
Vor allem auch mit Hilfe eines massiven Investitionsschubs möchte Draghi Europa aus der Misere helfen. Um den geschätzten Investitionsbedarf von jährlich zusätzlich bis zu 800 Milliarden Euro bzw. 5 Prozent des EU-BIP decken zu können, werden neue Wege beschritten werden müssen. Einen derartigen Investitionsschub gab es zuletzt in den 1960er und 70er Jahren. Das Volumen entspricht mehr als dem Doppelten des Marshallplans. Ein großer Teil der Mittel soll laut Draghi mit Hilfe der europäischen Kapitalmarktunion CMU gestemmt werden. Gänzlich mit privaten Mitteln werde es aber nicht gehen. Öffentliche Mittel seien unabdingbar, insbesondere sei eine gemeinsame Finanzierung nötig. Eine gemeinsame Schuldenaufnahme bzw. ein „Safe Asset“ sei laut Draghi außerdem hilfreich, um die Kapitalmarktunion voranzutreiben. Die bisherige Aufbau- und Resilienzfazilität habe gezeigt, wie solche Werkzeuge effektiv eingesetzt werden können.
Eingriffe im Bereich der Regelsetzung
Draghi kritisiert die mangelnde Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken im Rahmen des Europäischen Semesters. Dieses solle auf Fiskalregeln beschränkt und gleichzeitig ein neuer Wettbewerbskoordinierungsrahmen geschaffen werden. Insgesamt sei es das deklarierte Ziel, Bürokratielasten und Berichtspflichten zu reduzieren. Die Rede ist allgemein von einer Senkung um 25 % für europäische Unternehmen. KMUs sollen sogar von 50 % aller Berichtspflichten befreit werden. Sogenanntes Gold-Plating, bei dem Mitgliedstaaten höhere Standards etwa im Arbeitsrechts- oder Sozialbereich umsetzen als von der EU gefordert, sieht Draghi als Hindernis und möchte es unterbinden. Dies ist aus Perspektive der Arbeitnehmer:innen ein äußerst kritischer Ansatz und abzulehnen. Staaten, die etwa im Sozial- oder Umweltbereich ambitioniert sind und höhere Niveaus anstreben, dürfen keine Hindernisse in den Weg gelegt werden. Auch beim vorgeschlagenen Umbau des Europäischen Semesters ist höchste Vorsicht geboten.
Um den internen Wettbewerb besser überwachen zu können, schlägt Draghi ein „New Competition Tool“ vor. Damit soll die Kommission strukturelle Hemmnisse wie stillschweigende Absprachen einfacher und schneller prüfen können. Gleichzeitig soll die Kommission die Wettbewerbspolitik selektiv lockern und Prüfverfahren in der Fusionskontrolle beschleunigen. So soll der Weg für High-Tech Giganten in der EU geebnet werden. Um den Standort EU attraktiver zu machen, sollen außerdem Start-ups als „Innovative Europäische Unternehmen“ anstatt 27 nationale Regelwerke die Option eines EU-weit einheitlichen 28. Regelwerks erhalten. Dieses würde neben dem Unternehmens- und Insolvenzrecht auch das Steuer- und sogar das Arbeitsrecht umfassen.
Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit zu Lasten sozialer Ausgewogenheit
Einen wichtigen Ansatzpunkt sieht Draghi auch im Bildungsbereich, wo er verstärkt auf die Vermittlung von MINT-Kompetenzen setzen will. Dazu soll unter anderem der Europäische Sozialfonds ESF+ gezielt auf den Aufbau von Kompetenzen in strategisch wichtigen Bereichen ausgerichtet werden. Aus Perspektive der Arbeitnehmer:innen bzw. der Gewerkschaften kommen soziale Inhalte und wichtige Anliegen in der Arbeitswelt jedoch insgesamt viel zu kurz. Diese sind im Bericht sehr vage und hinken den wirtschaftspolitischen Forderungen in Konkretheit nach. Es fehlt die explizite Verknüpfung zur Europäischen Säule sozialer Rechte. Besonders die Überlegungen rund um das Thema Bürokratieabbau sind hochproblematisch. Und wiewohl von gewerkschaftlicher Seite Draghis Aufruf zur massiven Steigerung des Investitionsvolumens ausdrücklich begrüßt wird, so wird die Verknüpfung mit sozialer Konditionalität gefordert. Demnach sollen Investitionen und Förderungen nur an Betriebe fließen, die auch in Europa produzieren und ein gewerkschaftsfreundliches Umfeld schaffen, in dem langfristige Arbeitsplätze entstehen und Kollektivvertragsverhandlungen respektiert werden. Nur so kann die anstehende Transformation Hand in Hand mit und durch Arbeitnehmer:innen gelingen und nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden werden.
Weiterführende Informationen
Mario Draghi: EU competitiveness - Looking ahead (nur Englisch)
Euractive: Draghi Report - urgent but insufficiently concrete (nur Englisch)
Social Europe: Draghi Report - a social agenda is lacking (nur Englisch)
EUObserver: Draghi - Competing with China and US 'infinitely easier' with joint debt (nur Englisch)
AKEUROPA: Vorschlag der EU-Kommission zur Reform des europäischen Strommarkts löst zentrales Problem nicht
AKEUROPA: Anforderungen der Beschäftigten an die EU-Industriepolitik. Diskussionsrunde mit AK Präsidentin Renate Anderl
AKEUROPA: EU-Förderungen an soziale Kriterien knüpfen. Welche Möglichkeiten gibt es?
AKEUROPA: Kapitalmarktunion. Vorsicht ist angebracht!