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ZurückDie Kapitalmarktunion steht seit vielen Jahren auf der Brüsseler Agenda. Sie ist in den aktuellen Diskussionen wieder sehr präsent unter dem neuen Namen „Spar- und Investitionsunion“. Welche Schritte wurden bisher unternommen und welche stehen noch aus? Welche Risiken sind mit der Kapitalmarktunion verbunden und was steht ihrer Vollendung im Wege? Wir haben mit Thierry Philipponnat, dem Chief Economist des Brüsseler Think Tanks Finance Watch, gesprochen. Seine Ausführungen bieten nicht nur einen interessanten Überblick, sondern auch spannende Einblicke in die Perspektive des Finanzsektors.
Seit Jahren ist die Kapitalmarktunion (CMU), neuerdings unter dem Titel Spar- und Investitionsunion, ein fester Eckpfeiler der europäischen Diskussionen. Im zweiten Teil der Präsidentschaft Ursula von der Leyens liegt der Schwerpunkt verstärkt auf der Idee, die CMU zu vertiefen, um den enormen Investitionsbedarf Europas zu decken. Damit werden die seit Jahren andauernden Bemühungen fortgesetzt. Die AK steht vielen der Vorschläge und Maßnahmen im Rahmen der CMU nach wie vor äußerst kritisch gegenüber. Die Schutzinteressen privater Kleinanleger:innen und Arbeitnehmer:innen sowie die Finanzmarktstabilität dürfen aus Sicht der AK keineswegs privaten Kapitalinteressen untergeordnet werden.
Insgesamt war der bisherige Weg in Richtung CMU komplex. Obwohl zahlreiche Initiativen gestartet wurden, gibt es nach wie vor erhebliche strukturelle und regulatorische Hürden. In einem Gespräch zwischen AK EUROPA und dem Chief Economist von Finance Watch, Thierry Philipponnat, wurden die Fortschritte, Herausforderungen und Risiken der Kapitalmarktunion beleuchtet.
AK EUROPA: Die Kapitalmarktunion wird seit Jahren diskutiert und besteht aus vielen verschiedenen Initiativen und Projekten, die zum Teil auch nichts miteinander zu tun haben. Können Sie uns einen kurzen Überblick darüber geben, was im Laufe der Zeit diskutiert wurde?
Thierry Philipponnat: Die Idee zur Kapitalmarktunion wurde vor über zehn Jahren in der Antrittsrede von Jean-Claude Jucker vor dem EU-Parlament geboren, inspiriert durch die Initiative zur Bankenunion seines Vorgängers. Die damals 28 Mitgliedstaaten der EU hatten alle separate Kapitalmärkte. Die Idee war, dass, wenn man all diese Märkte zusammenführt, ein tieferer Kapitalmarkt entstehen würde. Damit würden europäische Unternehmen besseren Zugang zu privatem Kapital erhalten, was wiederum der Entwicklung der europäischen Wirtschaft zugutekäme.
Seit Beginn der Kapitalmarktunion diente der US-Kapitalmarkt als Vorbild, der in der Tat unübertroffen ist, was seine enorme Tiefe und seine Fähigkeit betrifft, Unternehmen riesige Kapitalmengen zur Verfügung zu stellen. Es wurde eine Vielzahl an Initiativen ergriffen mit dem Ziel, eine ähnliche Marktkapitalisierung in der EU zu erreichen. Nach Ansicht von Finance Watch waren einige dieser Initiativen sinnvoll, andere von begrenztem Interesse und wieder andere schlichtweg ungeeignet. Beispiele in diesem Zusammenhang sind die Vereinfachung der Prospektvorschriften für Emittenten, die Förderung der Verbriefung über das STS-Framework oder die Bereitstellung eines gemeinsamen Datentickers mit Informationen zu Börsenkursen. Weitere Beispiele umfassen die Schaffung von ELTIFs, European Long-Term Investment Funds, oder die EU-Pensionsinitiative PEPP, die darauf abzielt, wenn schon keine gemeinsamen Pensionen, so doch zumindest kompatible und übertragbare Pensionssysteme in der gesamten EU zu schaffen.
All diese nicht unumstrittenen Initiativen betrafen jedoch nur die am einfachsten zu erreichenden Ziele, und es besteht kein Zweifel daran, dass sie keine Kapitalmarktunion geschaffen haben. Warum? Zunächst einmal geht es bei der Kapitalmarktunion darum, dass ein einziges Regelwerk für alle gilt und dass eine Aufsichtsbehörde die Regeln in allen Ländern auf die gleiche Weise anwendet. Heute haben wir 27 EU-Länder mit 27 sogenannten NCAs, National Competent Authorities, die unterschiedliche Ansätze verfolgen, sich kaum untereinander abstimmen und die Regeln in einer nicht kohärenten Weise anwenden. Hinzu kommen sehr unterschiedliche Umsetzungen von EU-Richtlinien. Anzustreben wäre eine gemeinsame Aufsichtsbehörde, die für alle dieselben Regeln anwendet.
AK EUROPA: Herr Philipponnat, beschränken Sie sich auf die Regeln für die Finanzmärkte oder geht es um mehr? Beispielsweise werden im Zusammenhang mit der Kapitalmarktunion auch sehr oft Insolvenzregeln genannt.
Philipponnat: Neben den Kapitalmarktvorschriften müssen auch Insolvenzvorschriften, gesellschaftsrechtliche Vorschriften und Steuerfragen behandelt werden. Dies sind die drei größten Baustellen, zusätzlich zu einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde, die harmonisierte Vorschriften für die Kapitalmärkte anwendet. Insolvenzvorschriften sind von grundlegender Bedeutung, wenn man sich den Anleihenmarkt ansieht. Für Investoren in Anleihen stellt sich die Frage, was mit einem Gläubiger eines Unternehmens passiert, wenn das Unternehmen in Konkurs geht. Solange es unterschiedliche Insolvenzregeln gibt, kann es per Definition nicht denselben Markt für österreichische und spanische Anleihen geben. Das Gesellschaftsrecht ist für Aktienanleger sehr wichtig. Üblicherweise regelt das Gesellschaftsrecht, wie Hauptversammlungen zu organisieren sind, wie der Vorstand funktioniert, wer welche Befugnisse hat, ob Aktionäre Beschlüsse fassen können usw. Der dritte Punkt ist das Steuerrecht. Innerhalb der EU gibt es derzeit große Unterschiede bei der steuerlichen Behandlung von Emittenten und Unternehmen. Einige EU-Länder nutzen die Steuergesetzgebung, um Emittenten für ihre Märkte zu gewinnen. Die sogenannte regulatorische Arbitrage ist unter Mitgliedstaaten zur gängigen Praxis geworden und untergräbt systematisch alle ernsthaften Bemühungen um eine Kapitalmarktunion.
AK EUROPA: Beim Lesen des Draghi-Berichts, des Letta-Berichts und des Noyer-Berichts stößt man immer wieder auf denselben Vorschlag: das Vorantreiben privater Pensionsfonds. Können die laufenden Debatten als ein Schritt in Richtung Privatisierung des Pensionssystems unter dem Deckmantel der Kapitalmarktunion interpretiert werden?
Philipponnat: Aus rein finanztechnischer Sicht steht den Unternehmen ein riesiger Kapitalpool zur Verfügung, wenn alle Pensionssysteme alle Pensionsgelder in die Kapitalmärkte investieren. Aber bei der Altersvorsorge geht es vor allem um Menschen und politische Entscheidungen. Viele kapitalbasierte Pensionssysteme haben derzeit große finanzielle Probleme. Die Leistungszusagen gegenüber zukünftigen Pensionären könnten angesichts der Entwicklung der Kapitalmärkte nicht eingehalten werden. Unabhängig von rein technischen Aspekten sind die politischen und sozialen Auswirkungen enorm. In vielen Ländern lehnen Gewerkschaften solche Reformen strikt ab und werden auch in Zukunft weiter dagegen ankämpfen.
AK EUROPA: Abgesehen von privaten Pensionsfonds, welche anderen Initiativen erwarten Sie von der Kapitalmarktunion unter ihrem neuen Namen „Spar- und Investitionsunion“?
Philipponnat: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Es gab Überlegungen zu Sparkonten für EU-Bürger, die Investitionen in die Kapitalmärkte vereinfachen würden. Ich bin nicht davon überzeugt, dass sich dadurch etwas ändern wird. Ein solches Konzept wurde bereits beispielsweise in Frankreich getestet, und trotz der neuen rechtlichen Rahmenbedingungen haben diese Sparkonten für Durchschnittsbürger:innen keinen Unterschied gemacht, um in Aktien zu investieren. Die mit diesen Aktienkonten einhergehenden Steueranreize wurden hauptsächlich von den Wohlhabenden und Privilegierten genutzt, die bereits in Aktien investierten. Letztendlich glaube ich, dass es sich vor allem um kulturelle Unterschiede handelt. Dänemark hat eine Aktienmarktkapitalisierung von 190 % des BIP, was in etwa dem Wert der USA entspricht, während die Marktkapitalisierung Italiens bei etwa 35 % liegt. Diese kulturellen Unterschiede lassen sich nur schwer durch Gesetzgebung überwinden.
AK EUROPA: In der Debatte über die Kapitalmarktunion gibt es Stimmen, die sich für ein europäisches Safe Asset einsetzen. Könnten Sie die Rolle eines Safe Assets und seine Verbindung zur Kapitalmarktunion näher erläutern?
Philipponnat: Die Debatte über Safe Assets hat ihren Ausgangspunkt im vorherrschenden Investitionsverhalten. Es gibt einen sogenannten risikofreien Zinssatz, auf den eine Zinsmarge aufgeschlagen wird, wenn Geld an einen Kreditnehmer verliehen wird. Der risikofreie Zinssatz ist jener Zinssatz, der von einem Safe Asset ausgezahlt wird, also einem Vermögenswert, der als risikofrei gilt. Da der Euro eine unvollständige Währung ist, gibt es in der EU heute keine Safe Assets. Technisch gesehen leiht jedes Land der Eurozone, das Geld in Euro leiht, Geld in einer Fremdwährung, über die es keine Kontrolle hat. Wenn die USA Geld in Dollar leihen, haben sie die Kontrolle über die Währung. Wenn Japan dasselbe tut, das Vereinigte Königreich oder die Schweiz, haben sie die Kontrolle über ihre Währungen. Wenn Österreich, Belgien, Frankreich, Italien oder sogar Deutschland Geld in Euro leihen, können sie das Geld, das sie für die Rückzahlung benötigen, allerdings nicht einfach drucken. Zudem gibt es für den Euro kein gemeinsames Budget und keine gemeinsame Finanzpolitik. Was wir in der EU haben könnten, wäre ein Safe Asset, das mit dem T-Bond vergleichbar wäre, der Staatsanleihe der USA. Die entsprechende Lösung wären europäische Anleihen, für deren Rückzahlung Mittel auf EU-Ebene erforderlich wären. Das bedeutet wiederum entweder höhere Beiträge der Mitgliedstaaten, was eine Herausforderung darstellen würde, oder die Ausstattung der EU mit eigenen Mitteln, was eine noch größere und hochpolitische Debatte hervorrufen würde.
Dieses Interview wurde original auf Englisch geführt und ausschließlich die englische Version wurde von Finance Watch autorisiert. Die in diesem Interview geäußerten Meinungen und Ansichten sind ausschließlich die von Finance Watch und spiegeln nicht die Positionen der AK wider. Dieses Interview wurde in zwei Teile geteilt, der zweite Teil folgt in einer zukünftigen Ausgabe unseres Newsletters.
Weiterführende Information
AK EUROPA: Kapitalmarktunion. Vorsicht ist angebracht!
Finance Watch: Report - Europe’s coming investment crisis (nur auf Englisch verfügbar)
AK EUROPA: Der Draghi-Bericht. Wettbewerbsfähigkeit im Zentrum der EU Politik
AK EUROPA: „Weit mehr als ein Markt“. Niemand zurücklassen im Binnenmarkt
EU-Kommission: Capital markets union 2020 action plan (nur auf Englisch verfügbar)