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ZurückInmitten geopolitischer Unsicherheiten und Krisen strebt Europa nach mehr Wettbewerbsfähigkeit. Der Draghi-Bericht dient der EU-Politik dabei als Orientierung. Über die darin enthaltenen Schlussfolgerungen und Empfehlungen sprachen wir mit Andrew Watt, der im Oktober 2024 die Leitung im Europäischen Gewerkschaftsinstitut (EGI) übernommen hat. Er sieht einige Vorschläge des Berichts positiv, übt jedoch auch deutliche Kritik.
Mit Andrew Watt übernimmt ein erfahrener Volkswirt die Leitung des EGI. Der geborene Brite war bereits vor Jahren als Senior Researcher dort beschäftigt. Danach ging er nach Deutschland als Abteilungsleiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung an der Hans-Böckler-Stiftung. Nun ist er in Brüssel zurück und prägt ab sofort den Kurs des Europäischen Gewerkschaftsinstituts. Wir sprachen mit ihm über aktuelle Herausforderungen und wie die europäische Interessensvertretung für Arbeitnehmer:innen ihnen begegnen kann.
AK EUROPA: Herr Watt, das kommende Arbeitsprogramm der EU-Kommission wird stark geprägt vom viel diskutierten Draghi-Bericht. Wie ordnen Sie diesen Bericht ein?
WATT: Der Draghi-Bericht liefert eine detaillierte und umfassende Analyse der Situation Europas und seiner Perspektiven. Er konzentriert sich auf drei kritische Bereiche, die miteinander verknüpft sind: die Innovationslücke der EU zu China und den USA, die Verknüpfung von Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Erhöhung der wirtschaftlichen Sicherheit und Verringerung der Abhängigkeiten Europas. Dies sind in der Tat die Schlüsselthemen unserer Zeit, auch wenn es noch andere gibt. Das Thema Migration wird zum Beispiel kaum angesprochen, ist aber von wesentlicher Bedeutung. Draghis Kernbotschaft lässt sich so zusammenfassen: Europa steht vor ernsten Problemen, wenn es sein Produktivitätswachstum und seine Stellung im Bereich kritischer Technologien nicht erheblich steigert. Dies sei notwendig, möchte man den Lebensstandard, den Platz der EU in der Welt und das EU-Sozialmodell angesichts einer gleichzeitig schrumpfenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sowie der Notwendigkeit von Investitionen in die Dekarbonisierung und die eigene Sicherheit erhalten. Das ist keine beruhigende Botschaft, aber ich glaube, sie ist realistisch und wichtig. Und eine, die durch die kommende Trump-Präsidentschaft noch schärfer hervortritt.
AK EUROPA: Ganz Brüssel spricht nun von Wettbewerbsfähigkeit. Welchen Platz können Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innenrechte in dieser Diskussion einnehmen?
WATT: Es gibt einige zentrale Gewerkschaftspositionen, denen auch Draghi in seinem Bericht zustimmt. Bei der Wettbewerbsfähigkeit geht es beispielsweise nicht darum, die Kosten, insbesondere die Arbeitskosten, gegenüber den Handelspartnern in Europa zu senken. Das wäre bestenfalls ein Nullsummenspiel und wahrscheinlich ein Negativsummenspiel. Diese Denkweise hat uns letztlich auch in die Eurokrise geführt. Scheinbar hat Draghi aus seiner Zeit als EZB-Chef dazugelernt. Produktivitätswachstum ist der Schlüssel zu Wettbewerbsfähigkeit und, wichtig, er muss mit sozialer Integration einhergehen. Europa ist in vielen Fragen zu zersplittert, um tragfähige Lösungen zu bieten. Die Entscheidungsverfahren der EU müssen beschleunigt werden und wirklich europäische öffentliche Güter müssen auf EU-Ebene bereitgestellt werden. Das alles muss auch finanziert werden. Die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft und die Aufrechterhaltung des Lebensstandards müssen keine widersprüchlichen Ziele sein. Dies sind wichtige Botschaften, die sich im Bericht finden und die Gewerkschaften und andere fortschrittliche Akteure verstärken können und sollten.
AK EUROPA: Wo liegen die Schwachpunkte des Berichts?
WATT: Ein entscheidender Punkt ist die Finanzierung des Investitionsbedarfs. Woher soll sie kommen? Draghi fordert zurecht, dass der öffentliche und der private Sektor ihre Anstrengungen bündeln sollten. Aber: Seine Forderungen nach umfangreichen Mitteln auf EU-Ebene zur Finanzierung EU-weiter Projekte wurden sofort als politisch unerreichbar abgeschmettert. Gleichzeitig hat er es versäumt, die Probleme anzusprechen, denen die nationale Fiskalpolitik aufgrund der EU-Vorgaben gegenübersteht. Auch nach der Reform der Economic Governance, die eine Verbesserung darstellen mag, fehlen uns noch wichtige Elemente. Dazu gehört auch eine goldene Investitionsregel, sodass es den Mitgliedstaaten möglich wäre, Investitionsprojekte, die gemeinschaftlich als wichtig erachtet werden, mit Schulden zu finanzieren. Unter diesen beiden Voraussetzungen ist es schwer vorstellbar, woher die zusätzlichen öffentlichen Investitionen kommen sollen. Progressive Akteure müssen daher ihre Argumente schärfen und ihre Kampagnen sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene intensivieren. Denn in vielen Fällen werden private Investitionen nur dann getätigt, wenn es zuvor öffentliche Investitionen gab. Man denke zum Beispiel an Elektrofahrzeuge und die notwendigen Investitionen in Stromnetze und Ladeinfrastruktur. Das ganze ambitionierte Projekt läuft daher Gefahr zu versanden.
Eine Sache, die ebenso nicht erwähnt wird, sind Löhne. Seltsam. Man könnte meinen, dass der Preis der Arbeit etwas damit zu tun hat, wie effizient die Unternehmen sie einsetzen. Das ist ein blinder Fleck. Dasselbe gilt für die Rolle, die die Mitbestimmung in ihren verschiedenen Formen in den Unternehmen als Mittel zur Steigerung der Produktivität spielt. Zusammen mit der Verlangsamung der Produktivität war auch zu beobachten, dass das Lohnwachstum in der EU hinter dem Produktivitätswachstum zurückgeblieben ist, sodass die Lohnquote, bzw. der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, gefallen ist. Und wir haben gesehen, dass die Flächentarifverträge vielerorts erodieren. Österreich ist hier eine bemerkenswerte Ausnahme im positiven Sinn. Aber zum Beispiel in Deutschland sehen wir einen Rückgang von etwa 75% auf 50%. Das bedeutet, dass schwächere Unternehmen einer Branche ihr Wettbewerbsproblem eher durch das Drücken von Löhnen als durch Produktivitätssteigerungen lösen können. Die so genannte „Produktivitätspeitsche“ hat ihre Wirksamkeit verloren. Die Gewerkschaften sollten die Möglichkeiten, die die EU-Mindestlohnrichtlinie mit ihrer Zielvorgabe einer 80%igen Tarifbindung eröffnet, voll ausschöpfen, um die Bindungskraft der Kollektivvertragsverhandlungen auszuweiten. Das ist eine Hürde, die Österreich ohnehin nimmt. Wir sollten versuchen, die betriebliche Demokratie und Mitsprache der Beschäftigten zu verteidigen und auszubauen – als Wert an sich, aber auch als Mittel zur Steigerung der Produktivität und damit zur Untermauerung unseres Wirtschafts- und Sozialmodells.
Zudem: Der Bericht drängt grundsätzlich in Richtung Deregulierung, was ich problematisch finde. Das mag punktuell vonnöten sein, aber hiervon sollte man kaum nennenswerte Impulse erwarten und wichtige nichtökonomische Ziele müssen weiterhin verfolgt werden.
AK EUROPA: Die EU wird im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftsleistung oft mit den USA verglichen. Auch Draghi nimmt in seinem Bericht Bezug auf die USA. Zurecht?
WATT: Im Draghi-Bericht ist viel von den USA die Rede, und es werden Dinge wie Risikokapitalmärkte, Risikobereitschaft, die erstklassigen Universitäten usw. gelobt. Einiges davon ist auch gerechtfertigt. Es wird jedoch nicht erwähnt, dass die USA in den vergangenen Jahren bereit waren, weitaus größere Haushaltsdefizite auf sich zu nehmen, um die Folgen von Krisen und Schocks abzufedern und Investitionen zu fördern. Die USA haben das Maastricht-Ziel von 3 % in mehr als zwanzig Jahren nie erreicht. Kein einziges Mal! Ihre Geldpolitik ist auch offensichtlich stärker auf die Stabilisierung von Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet als in Europa. Und sie haben mit dem Inflation Reduction Act eine massive „vertikale“ Industriepolitik mit einer starken sozialen Konditionalität eingeführt, wie wir sie in Europa noch nicht haben.
AK EUROPA: Wie wird sich das EGI unter Ihrer Leitung angesichts dieser neuen Herausforderungen ausrichten?
WATT: Ich bin gerade Generaldirektor des EGI geworden, als der Draghi-Bericht erschienen ist und Trump die Präsidentschaft gewonnen hat. Es wird oft gesagt, dass Europa – und auch die Welt – mit einer Polykrise konfrontiert ist, dem Zusammenspiel von Klimawandel, Migration, geopolitischen Konflikten/Kriegen, Lieferkettenblockaden, Inflation, dem Aufstieg populistischer Parteien usw. Es ist klar, dass in einer solchen Zeit ein großer Bedarf an Orientierung besteht. Ein Forschungsinstitut wie das unsere kann sich nicht um eine 10-Cent-Münze drehen. Aber ich kann euch und Ihnen versichern, dass wir in den kommenden Wochen und Monaten vertiefte Analysen zu den von mir gerade genannten Fragestellungen erstellen werden, um die Argumente der europäischen Arbeiter:innenbewegung in den kommenden Debatten zu stärken.
Die in diesem Interview geäußerten Meinungen und Ansichten spiegeln nicht zwingend die Positionen der AK wider.
Weiterführende Informationen
ETUI: Website
ETUI: Andrew Watt (nur Englisch)
ETUI: Five questions for Andrew Watt, the ETUI’s new General Director (nur Englisch)
AK EUROPA: Draghi-Bericht über die Zukunft der EU-Wettbewerbsfähigkeit
AK EUROPA: Der Draghi-Bericht. Wettbewerbsfähigkeit im Zentrum der EU-Politik