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ZurückIm Draghi-Bericht und in den politischen Leitlinien von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen finden sich unter den Stichworten „Better Regulation“ und „Bürokratieabbau“ weitreichende Bestrebungen, EU-Regulierungen schlanker zu machen und Unternehmen zu entlasten. Allerdings besteht dabei die Gefahr, wichtige Regelungen für Arbeitnehmer:innen und Umweltschutz aus den Augen zu verlieren. AK EUROPA und das ÖGB Europabüro haben am 10. September 2024 ein Webinar zu diesem Thema veranstaltet.
Im Rahmen des Webinars mit dem Titel Gesellschaftspolitische Standards in Gefahr? Die Politik der EU-Kommission zu „Bürokratie und Verwaltungslasten“ präsentierte Brigitte Pircher (Södertörn Universität Stockholm) ihre aktuelle Studie zum Thema „Bessere Rechtsetzung“. Anschließend fand eine Diskussion statt zu den Fragen, ob die Agenda für bessere Rechtsetzung wichtige gesellschaftspolitische Standards gefährdet und wie bessere Rechtsetzung gestaltet werden könnte.
Brauchen wir bessere Rechtsetzung?
Brigitte Pircher stellte dar, dass diese Diskussion bereits seit langer Zeit in verschiedenen Formen geführt wird. In den 1990er Jahren wurden EU-Rechtsvorschriften oftmals als zu technisch und kompliziert bezeichnet. Im Laufe der Zeit wurden diese immer häufiger als Belastung, insbesondere für Unternehmen, dargestellt. Unternehmensvertreter:innen fordern seit Jahren den Abbau von sogenannten Verwaltungslasten. Unter EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wurde 2014-2019 ein Fokus auf Vereinfachung gelegt. Im Zuge dessen wurden Politikinstrumente wie die REFIT-Plattform und der Ausschuss für Regulierungskontrolle (Regulatory Scrutiny Board, RSB) geschaffen.
Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verfolgt eine Better Regulation Agenda und will die administrative Belastung für Unternehmen reduzieren. Ihre politischen Leitlinien 2019-2024 und 2024-2029 sowie auch der kürzlich veröffentlichte Draghi-Bericht beschäftigen sich mit besserer Rechtsetzung. Ziel dabei ist es, die EU wettbewerbsfähiger und widerstandsfähiger gegen Krisen zu machen. Der Tenor lautet, dass Rechtsvorschriften vereinfacht und Bürokratielasten beseitigt werden sollen, damit Unternehmen und insbesondere KMUs unter einfacheren Bedingungen wirtschaften können.
Druck auf gesellschaftspolitische Standards
Bei der Entlastung von Unternehmen muss darauf geachtet werden, dass Meldepflichten und Regulierungen zum Schutz von Arbeitnehmer:innen und der Umwelt nicht untergraben werden. MdEP Evelyn Regner, Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft und Währung des EU-Parlaments (S&D), merkte an, dass Berichterstattungspflichten beispielsweise im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter sehr wichtig seien: Nur mit akkuraten Daten könne man Vergleiche über bestehende Probleme wie den Gender Pay Gap aufstellen. Unternehmen dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen, vielmehr müssen bestehende Regulierungen besser umgesetzt werden.
Kenneth Haar (Corporate Europe Observatory) bezeichnete Better Regulation als problematische Deregulierungsagenda und das RSB als Verwässerungsmechanismus für wichtige gesetzgeberische Initiativen der EU-Kommission.
Sophia Zakari (SMEUnited) sah nicht zwingend einen Widerspruch zwischen Regulierung und besserer Rechtsetzung. Sie betonte, dass Unternehmen nicht verlangen, den Schutz für Arbeitnehmer:innen und Umwelt abzubauen. KMU wollen aber Regelungen, die für sie umsetzbar sind. Auch die Kommunikation der staatlichen Behörden untereinander solle verbessert werden, damit Unternehmen nicht dieselbe Information mehrmals vorlegen müssen.
Abbau von Bürokratie und Verwaltungslasten: Weniger ist nicht immer mehr
Ein Vorschlag, der im Kontext von „besserer Rechtsetzung“ immer wieder diskutiert wird, lautet, bei Einführung einer neuen Regelung eine bereits bestehende jeweils zu streichen, das sogenannte One-In-One-Out Prinzip. Eine Studie der AK Wien zeigt jedoch, dass diese Vorgehensweise kein Allheilmittel ist. Zwar können die Verwaltungskosten für Unternehmen möglicherweise gesenkt werden, sozialpolitische Problemstellungen werden dann aber nicht sinnvoll und zukunftsorientiert behandelt. Der gesamtgesellschaftliche Nutzen von Regulierungen darf im Streben nach Kostenentlastung für Unternehmen nicht in den Hintergrund treten. Darüber hinaus sind fast alle Unternehmen in der EU (etwa 99%) als KMUs ohnehin von vielen Pflichten ausgenommen.
Wie könnte bessere Rechtsetzung ohne gesellschaftspolitische Rückschläge aussehen?
Eine Revision des Regulatory Scrutiny Boards ist notwendig. Es beeinflusst die EU-Gesetzgebung maßgeblich zugunsten von Unternehmen und sorgt für eine Verwässerung von Vorschlägen der EU-Kommission, noch bevor sie an die Öffentlichkeit gelangen. Das war etwa beim EU-Lieferkettengesetz der Fall. Seine Arbeitsweise ist intransparent, auch hinsichtlich der Beeinflussung durch Lobbyist:innen. Zudem könnte mit besseren technischen Lösungen für diverse Meldeverpflichtungen von Unternehmen und mit transparenteren Prozessen bessere Rechtsetzung erreicht werden, ohne an sozialen Schutzbestimmungen zu rütteln.
Weiterführende Informationen
EU-Kommission: Bessere Rechtsetzung
EU-Kommission: Better regulation: guidelines and toolbox
AK Studie: EU Better Regulation - Creating a playing feld for businesses at the expense of social and environmental policies
AK EUROPA: One-In-One-Out Prinzip – Weniger ist nicht immer mehr!
AK Studie: Das One-In-One-Out-Prinzip im Europäischen Rechtsetzungsprozess: Weniger ist nicht immer mehr
AK Wien: RSB: Der EU-Ausschuss für Regulierungskontrolle
AK EUROPA: Politikgestaltung hinter verschlossenen Türen? Grundlegende Revision des Regulatory Scrutiny Boards unabdingbar
AK EUROPA: Das Regulatory Scrutiny Board der Europäischen Kommission: Bessere Rechtsetzung oder einseitige Einflussnahme auf die Gesetzgebung?
AK Studie: The EU's Commission Regulatory Scrutiny Board: better regulation or biased influence on legislation?