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ZurückAm Mittwoch, dem 13.September 2023, hielt Kommissionspräsidentin von der Leyen im EU-Parlament in Straßburg die jährliche Rede zur Lage der Union. Die letzte SOTEU in dieser Legislaturperiode vor den anstehenden EU-Wahlen im Juni 2024 setzte inhaltliche Schwerpunkte im Bereich des grünen Wandels, bei der Künstlichen Intelligenz (KI) und in der Frage der Erweiterung. Die soziale Perspektive wurde zwar mit einzelnen wichtigen Punkten angesprochen, wie zum Beispiel im Hinblick auf die Rolle der Sozialpartner. Insgesamt kam sie aber viel zu kurz. Es fehlte etwa ein grundsätzliches Bekenntnis zur Weiterführung der europäischen Säule sozialer Rechte in der nächsten Legislaturperiode.
Vor dem Hintergrund, dass in weniger als 300 Tagen EU-Wahlen stattfinden, war die Rede von Ursula von der Leyen ein Rückblick auf die Arbeit der vergangenen Jahre. Sie skizzierte verbleibende Projekte in der laufenden Legislaturperiode, enthielt aber auch Themen für die nächste Kommission. Aus Arbeitnehmer:innensicht zu begrüßen ist das starke Bekenntnis zur EU-Gleichstellungspolitik: Hier verwies die Kommissionspräsidentin auf die Richtlinie zu Frauen in Aufsichtsräten, den Beitritt zur Istanbulkonvention sowie die Lohntransparenzrichtlinie als „wegweisende und bahnbrechende Arbeit“ der EU. Letztere Richtlinie gilt es gerade auch in Österreich, in einem der EU-Länder mit dem größten Gender Pay Gap, zeitnahe und umfangreich umzusetzen. Zu begrüßen ist auch der Nachdruck der Kommissionspräsidentin, die Verhandlungen zur Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen zu einem baldigen Abschluss zu bringen.
Green Deal mit Fokus auf Industrie
Vor dem Hintergrund des heißesten Sommers der Geschichte mit Waldbränden und Überschwemmungen quer durch Europa („ein kochender Planet ist Realität“) verwies von der Leyen auf die Bedeutung der Klimaagenda, die zu einer Wirtschaftsagenda geworden sei. Konkret angekündigt wurden Clean Transition-Dialoge mit der Industrie, ein Paket für Windkraft in Europa sowie eine Anti-Subventions-Untersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China. „Von Windkraft bis Stahl, von Batterien bis hin zu Elektrofahrzeugen, unser Ziel ist ganz klar: Die Zukunft unserer Clean-Tech-Industrie muss in Europa liegen“ – mit dieser Aussage legte die Präsidentin erneut ein klares Bekenntnis ab, dass in zentralen zukunftswichtigen Technologien europäische Wertschöpfung gefördert und vorangetrieben werden muss, wie es auch im Industrieplan für den Grünen Deal vorgesehen ist. Diese Bemühungen sind zu unterstützen, müssen aber auch die Interessen der Arbeitnehmer:innen im Fokus haben. Öffentliche Gelder und wirtschaftspolitische Maßnahmen dürfen nur unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden, dass sie Beschäftigungssicherheit und hohe Beschäftigungsqualität sowie nachhaltigen Wohlstand schaffen.
Ob die angekündigte Anti-Subventions-Untersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China, die vor allem bei günstigen Elektroautos zunehmend mehr Marktanteile in Europa gewinnen, der richtige Weg ist, um die europäische Autoindustrie vor der chinesischen Konkurrenz zu schützen, ist umstritten. Zielführender als mit möglichen Strafzöllen das ohnehin angespannte Verhältnis zu China weiter zu belasten, dürfte eine Strategie sein, die darauf abzielt, die ökologisch anspruchsvolleren Methoden der europäischen Hersteller zu belohnen. Zudem wäre es sinnvoll, chinesische Autohersteller zu motivieren, ihre Elektroautos auch am europäischen Wirtschaftsstandort zu produzieren und damit europäische Beschäftigung und Kaufkraft zu schaffen.
Kinderbetreuung, Sozialpartner, aber keine starke soziale Orientierung
Richtigerweise wies die Kommissionspräsidentin im Bereich der EU-Sozialpolitik auf das Fehlen bestehender Kinderbetreuungseinrichtungen in der EU hin. Dies mache – wie auch die Arbeiterkammer immer wieder betont – den Arbeitsmarktzugang bzw. die Vollzeitbeschäftigung für viele Frauen unmöglich. Positiv hervorzuheben ist das starke Bekenntnis von der Leyens zu den Sozialpartnern, auf deren Expertise die EU etwa in den Bereichen Skills, Arbeitskräftemangel und KI vermehrt zurückgreifen will. Hier verwies die Kommissionpräsidentin auch auf den hohen Stellenwert des vor 40 Jahren in Val Duchesse begründeten Europäischen sozialen Dialogs. Im kommenden Halbjahr soll unter belgischer Präsidentschaft wieder ein Sozialpartner-Gipfel in Val Duchesse stattfinden.
Davon abgesehen fehlten in der SOTEU-Rede jedoch wichtige Weichenstellungen für ein soziales Europa. Unverständlich ist, dass die Europäische Säule sozialer Rechte mit keinem Wort erwähnt wurde. Auch sonst gab es kein Bekenntnis zu weiteren Rechtsakten im Bereich der EU-Sozialpolitik, welche europäische soziale Mindeststandards schaffen könnten. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) wies darauf hin, dass die Rede „keine Lösungen für die Arbeitnehmer:innen, die aktuell mit den Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben“ angeboten habe. S&D-Fraktionsvorsitzende Iratxe García Pérez forderte ein stärkeres Bekenntnis zu sozialen Rechten, darunter auch lebensnotwendige Mindesteinkommen und eine Strategie zur Armutsbekämpfung.
KMU, Wettbewerbsfähigkeit & KI
Zur Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) möchte die Kommission noch dieses Jahr einen KMU-Beauftragten der EU ernennen, sowie einen Legislativvorschlag vorlegen, welcher Berichtspflichten für Unternehmen um 25 % reduzieren soll. Hier ist vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen mit der Better Regulation-Agenda der Kommission, etwa zum One In-One Out-Prinzip große Vorsicht geboten, da unter dem Titel der Verwaltungslastenreduktion Einschnitte in wichtige Schutzvorschriften drohen könnten. Geplant sind der Abschluss weiterer Handelsabkommen mit Australien, Mexiko, sowie auch des Mercosur-Abkommens, welche seitens der Arbeiterkammer aus sozialen und ökologischen Gründen abgelehnt werden. Von Mario Draghi soll ein Bericht über die Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU vorbereitet werden. Zu kritisieren ist, dass das wichtige und aktuelle Thema der notwendigen Reform der EU-Fiskalregeln keinen Eingang in die Rede gefunden hat.
Im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) schlägt die Kommissionspräsidentin ein neues globales Rahmenwerk zu KI mit drei Säulen vor: (1) dem EU-KI Gesetz als menschenzentrierte und verantwortungsvolle Blaupause für die ganze Welt, (2) einem Governance-System für KI nach Vorbild des Weltklimarates und (3) eine Vertiefung der europäischen Führungsrolle im Bereich Supercomputer durch Öffnung für europäische KI-Start-Ups. Ob mit dem EU-KI Gesetz tatsächlich die Verankerung eines menschenzentrierten Ansatzes gelingen kann, wird erst der Abschluss der derzeit laufenden Trilogverhandlungen zeigen. Wichtig wäre es, nun den Vorschlägen des EU-Parlaments zur Verbesserung des KI Gesetzes (u.a. klare Ausnahme für nationales Arbeitsrecht, Verbot der Verwendung biometrischer Identifizierung, eigene Regeln für Generative KI, kollektiver Rechtsschutz für Verbraucher:innen) zu folgen und zusätzlich eine eigene Richtlinie zu Mindeststandards zu KI in der Arbeitswelt vorzulegen.
Erweiterung & Reform der EU
Zum Abschluss enthielt von der Leyens Rede einen klaren Ruf nach einer Erweiterung der EU: Die Zukunft der Ukraine, des Westbalkans und Moldaus liege in der EU, so von der Leyen. Auch für die Menschen in Georgien sei die EU-Perspektive wichtig. Das ist nachvollziehbar, ohne Vertiefung durch weitreichende Reformen ist die EU jedoch nicht aufnahmefähig. Die Aufnahmefähigkeit der EU ist zudem integraler Bestandsteil der Kopenhagener-Kriterien. Ratspräsident Charles Michel hat in diesem Zusammenhang Ende August 2023 erstmals in einer Rede ein konkretes Datum genannt - bis 2030 soll die EU für die Erweiterung bereit sein.
Die in der Rede zur Lage der Union im Zusammenhang mit der Erweiterung angekündigten Vorhaben, die Berichte über Rechtsstaatlichkeit auch für Beitrittsstaaten zu öffnen, sowie eine Überprüfung von Politikfeldern und des Haushalts durch die EU-Kommission einzuleiten, sind wichtig. Sie sind aber bei weitem nicht ausreichend, um die EU aufnahmefähig zu machen. Die Forderung nach Einberufung eines Konvents zur Reform der EU-Verträge, wie sie von EU-Parlament oder Arbeiterkammer erhoben wird, muss daher ganz oben auf die EU-Agenda gesetzt und auch von der EU-Kommission uneingeschränkt unterstützt werden. Das enge Korsett der EU-Verträge – mit den einseitigen wirtschaftspolitischen Festlegungen und dem Erfordernis der Einstimmigkeit – schränken die sozial-ökologische Weiterentwicklung und die demokratische Handlungsfähigkeit Europas stark ein.
Weiterführende Informationen:
EU-Kommission: Lage der Union 2023 — Originalfassung der Rede
EU-Kommission: Lage der Union 2023 — Vorgeschlagene Maßnahmen
AK EUROPA: State of the Union 2022 — EU-Kommission schlägt Übergewinnsteuer vor
AK EUROPA: Von der Leyens Rede zur Lage der Union 2021
AK EUROPA: Zukunft in Zeiten von Corona: Von der Leyens Rede zur Lage der Europäischen Union 2020
AK EUROPA: Kommission von der Leyen gewählt
AK Wien: Infobrief — Viel Pathos, aber auch Substanz: Rede zur Lage der Union 2023