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ZurückDer Vorschlag für die neue EU-Kommission steht, nun liegt der Ball beim EU-Parlament. Seit Mittwoch steht fest, dass die Anhörungen vom 4. bis 12. November stattfinden werden. Je nach Zuständigkeitsbereich wird die Eignung der designierten Kommissar:innen von einem oder mehreren Ausschüssen beurteilt. Erst nach positivem Abschluss der Anhörungen kann das Plenum dem gesamten Kollegium seine Zustimmung erteilen.
Nach zähen Verhandlungen konnte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte September schließlich ihr designiertes Kollegium vorstellen. Dabei ist sie ihrem erklärten Ziel der Geschlechterparität auf den letzten Metern zwar näher gekommen, hat es aber nicht vollständig erreicht. Neben der Präsidentin selbst stehen nun zehn Frauen 16 Männern gegenüber, die Europäische Volkspartei (EVP) ist überproportional vertreten. Sowohl den männlichen Überhang als auch den der EVP versucht von der Leyen anscheinend im Bereich der nunmehr sechs Exekutiv-Vizepräsident:innen auszugleichen. Dort findet sich nur eine Kandidatin der EVP, auf zwei Männer kommen vier Frauen. Ebenso entscheidend ist aber die Zuteilung der Generaldirektionen zu den Kommissar:innen, bestimmt diese doch wesentlich den Einfluss, den die einzelnen Kommissionsmitglieder tatsächlich ausüben können. Ob von der Leyens Vorschlag die EU-Parlamentsfraktionen zufrieden stellt, wird sich zeigen.
Denn jetzt kommt es auf die Zustimmung des EU-Parlaments an. Jede:r designierte Kommissar:in muss sich einer Anhörung in den jeweils zuständigen Ausschüssen des EU-Parlament stellen und um seine Billigung werben, bevor die EU-Kommission als Ganzes vom Plenum abgesegnet werden kann. Es bleibt abzuwarten, ob alle Kandidat:innen diese inhaltliche Prüfung bestehen. Besonders umstritten ist Raffaele Fitto, Kandidat der post-faschistischen Fratelli d’Italia (EKR) von Giorgia Meloni. Auch der Ungar Olivér Várhelyi, derzeit Erweiterungskommissar, muss um seinen Platz in der künftigen EU-Kommission bangen. Aus Furcht vor Verzögerungsversuchen durch Viktor Orban und wegen seiner nicht als zentral angesehenen Zuständigkeit für Gesundheit und Tierwohl könnte er jedoch durchgewunken werden. Für die Parlamentsfraktionen geht es nun darum, sich intensiv mit den Kandidat:innen zu beschäftigen und ihre Fragen für die Anhörungen vorzubereiten. Zivilgesellschaft und Lobbyist:innen machen dabei auf die aus ihrer Sicht wichtigen Themen aufmerksam.
Soziales kommt zu kurz
Der große Elefant im Raum ist das, was sich nicht in den Titeln der Portfolios finden lässt: Beschäftigung und soziale Rechte. Seit Jahrzehnten fixer Bestandteil der Kollegien der EU-Kommission, trägt nun erstmals kein:e Kommissar:in diese Politikbereiche im Titel. Ursula von der Leyen will die Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration (DG EMPL) unter dem Titel Fachkräfte, Kompetenzen und Vorsorge dem Portfolio der designierten Exekutiv-Vizepräsidentin Roxana Mînzatu zuordnen. Auch wenn im sogenannten Mission Letter für die Sozialdemokratin aus Rumänien von Beschäftigungsqualität und sozialem Dialog die Rede ist, bleibt abzuwarten, wie viel Substanz der sozialen Agenda verliehen werden kann. Zudem gibt es Gleichstellung nicht mehr als eigenes Portfolio; stattdessen wurde der designierten Kommissarin für Vorsorge und Krisenmanagement, der bisherigen belgischen Außenministerin Hadja Lahbib (ALDE), auch Gleichberechtigung zugeordnet. Starke Kritik an diesen Umbauten kommt vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), der von der Leyen dazu auffordert, den Titel „hochwertige Beschäftigung und soziale Rechte“ einzuführen, das Portfolio Gleichstellung zurückzubringen und Soziales horizontal in alle Portfolios einzuweben. Gerade in Zeiten wachsender Ungleichheit wären diese Schritte von großer Bedeutung.
Hoffnungsvoll stimmt allerdings, dass der designierte Energiekommissar, der dänische Sozialdemokrat Dan Jørgensen, erstmals auch das Thema (bezahlbares und nachhaltiges) Wohnen in seinem Portfolio hat. Auch dass die Generaldirektion Wettbewerb (DG COMP) künftig von der Exekutiv-Vizepräsidentin für einen sauberen, fairen und wettbewerbsfähigen Wandel, der Spanierin Teresa Ribera (S&D), geleitet wird, stößt auf positive Resonanz. Als Klima-Champion und Vorreiterin der Just Transition genießt Ribera bei einschlägigen zivilgesellschaftlichen Akteuren hohes Vertrauen. Mit dem umfangreichen Portfolio der Exekutiv-Vizepräsidentin hat sie nun eine der mächtigsten Positionen innerhalb des neuen Kollegiums inne. Die Hoffnungen, dass sie zu einem wichtigen Sprachrohr für soziale Anliegen in der neuen Kommission wird, sind daher groß.
Das Clean Industrial Trio
Der European Green Deal geht in die nächste Runde, der Fokus verlagert sich auf den Clean Industrial Deal, dem Deal für eine saubere Industrie. Dies zeigt einmal mehr den Trend zu Industriepolitik und Wettbewerbsfähigkeit, wie er auch im Draghi-Bericht angelegt ist. Drei Kommissar:innen werden für seine Umsetzung zuständig sein. Neben Teresa Ribera sollen ihn der designierte Industriekommissar Stéphane Séjourné (Renaissance) aus Frankreich und der Niederländer Wopke Hoekstra (EVP), der das Klimaressort behalten soll, vorantreiben. Unter Séjourné soll unter anderem ein neuer European Competitiveness Fund eingerichtet werden, um Investitionen in Innovationen und Technologien sicherzustellen, die für den Wandel notwendig sind. Die Forderungen der Gewerkschaften bleiben dabei bestehen. Es bedarf sozialer Konditionalitäten und eines holistischen Verständnisses von Just Transition über Riberas Portfolio hinaus. Sie ist auf die aktive Mitarbeit ihrer Kollegen angewiesen. Wie das Zusammenspiel dieses Trios in der Praxis funktionieren wird, bleibt abzuwarten. Hoekstras politische Biographie ist durchaus von Interessenskonflikten geprägt.
Alles auf Schiene?
Unbestritten ist, dass die Schiene bei der anstehenden Mobilitätswende eine wesentliche Rolle spielen muss, sowohl im Güter- als auch im Personenfernverkehr. Angesichts dieser Dringlichkeit sorgt die Nominierung des Griechen Apostolos Tzitzikostas (EVP) für das Amt des Kommissars für nachhaltigen Verkehr und Tourismus teilweise für Verwunderung. In seinem Mission Letter werden neben wichtigen Eisenbahnprojekten auch ein Industrieaktionsplan für den Automobilsektor oder eine neue Hafenstrategie erwähnt. Es bestehen Zweifel, ob er die transeuropäischen Bahnprojekte mit dem nötigen Ehrgeiz angehen wird. Der europäische Dachverband der Transportarbeitergewerkschaften ETF kritisiert zudem in einem offenen Brief, dass die prekären Arbeitsbedingungen im Verkehrssektor anscheinend auch im kommenden Mandat keinen prominenten Platz auf der Agenda einnehmen werden.
In welche Richtung sich Tzitzikostas Generaldirektion (DG MOVE) letztlich entwickeln wird, werden auch die parlamentarischen Anhörungen und schließlich das Arbeitsprogramm zeigen. Das gilt auch für die anderen designierten Kommissar:innen, die sich in diesen Tagen intensiv in teils völlig neue Themen einarbeiten müssen, wie etwa Magnus Brunner (EVP). Er soll sich zukünftig nicht mehr um die österreichischen Finanzen kümmern, sondern um die politisch heikle europäische Migrationsagenda.
Weiterführende Informationen
AKEUROPA | Der Draghi-Bericht. Wettbewerbsfähigkeit im Zentrum der EU Politik
EU-Parlament: European Parliament hearings with Commissioners-designate to start on 4 November (nur Englisch)
EUobserver: Why, for the first time ever, no EU social affairs commissioner? (nur Englisch)
ETUC: Mistake to scrap jobs commissioner amid jobs crisis (nur Englisch)
Corporate Europe Observatory: Revolving doors and far-right ties (nur Englisch)
EBB: Commissioner who?! (nur Englisch)