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ZurückVerwaltungslasten für Unternehmen reduzieren, Rechtsvorschriften vereinfachen und „Bessere Rechtsetzung“ vorantreiben. Diese Vorhaben gehören zu den Prioritäten der EU-Kommission. Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft befürchten eine Deregulierungsagenda auf Kosten der Arbeitnehmer:innen und der Umwelt. In einem gemeinsamen offenen Brief an die Kommissionspräsidentin wird diese aufgefordert, Rechtsvorschriften zum Schutz von Mensch, Natur und Demokratie nicht in Frage zu stellen.
Bereits in ihren Politischen Leitlinien für die EU-Kommission 2024 – 2029 kündigte Ursula von der Leyen die Vereinfachung von EU-Rechtsvorschriften als Maßnahme zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU an. Vorrangig geht es dabei um Vereinfachungen für Unternehmen. Wirtschafts- und Industrieverbände arbeiten seit geraumer Zeit mit massivem Lobbying darauf hin. Vor diesem Hintergrund rufen rund 260 Organisationen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften die Kommissionspräsidentin dazu auf, Rechtsvorschriften zum Schutz von Mensch, Natur und Demokratie nicht aufs Spiel zu setzen. AK EUROPA unterstützt den Appell.
Deregulierung ist nicht die Antwort
Gesetzgebung sollte darauf abzielen, den Nutzen für die Vielen zu maximieren und nicht in erster Linie Kosten für Unternehmen zu minimieren. Im Vordergrund sollte die Frage stehen, welche Kosten für die Gesellschaft im Fall des Nichthandelns entstehen. Dies gilt in Bezug auf die grüne und digitale Transformation ebenso wie für viele weitere Herausforderungen, vor denen die EU steht. Kurzfristig entstehende Kosten (für Unternehmen) sollten in Relation dazu eingeordnet werden.
Die Herausforderungen, vor denen die EU derzeit steht, sind nicht auf eine übermäßige Regulierung zurückzuführen, sondern vor allem auf das Versagen von Regierungen und Unternehmen, vorausschauend zu planen, zu investieren und sich an notwendige Veränderungen anzupassen. Ein Beispiel: Die Krise der deutschen Automobilindustrie ist nicht durch zu viele Vorschriften, sondern durch mangelnde Innovation und eine verzögerte Umstellung auf Elektrofahrzeuge zu erklären.
Die Wettbewerbsfähigkeit durch die Vereinfachung von Rechtsvorschriften steigern zu wollen, erscheint bedenklich. Es besteht das Risiko, dass diese Agenda zu einem Abbau sozialer, ökologischer und menschenrechtlicher Schutzbestimmungen führt, die von Wirtschaftsakteuren als belastend angesehen werden. Wirtschaftsverbände haben beispielsweise die Lohntransparenz-Richtlinie als Verwaltungslast bezeichnet. Diese dient dazu, gleiches Entgelt für Frauen und Männer für gleich(wertig)e Arbeit durchzusetzen (Bekämpfung des Gender Pay Gap) – eine wichtige Errungenschaft für Arbeitnehmer:innen aus der letzten EU-Legislaturperiode.
Das Omnibus-Paket
Die Mission Letters („to-do Listen“) an die 26 Kommissar:innen enthalten unter anderem den Auftrag, Berichtspflichten von Unternehmen um insgesamt zumindest 25% zu reduzieren (35% für KMU, das sind mehr als 99% der Unternehmen in der EU). Die EU-Mitgliedstaaten unterstützen das Vorhaben, wie in der Budapester Erklärung vom 8. November 2024 festgehalten wurde. Als einen Schritt, um die angestrebte Verringerung zu erreichen, hat Ursula von der Leyen ein sogenanntes Omnibus-Paket angekündigt. Mit dem Paket sollen bestehende und künftig geltende Berichtspflichten im Bereich der Nachhaltigkeit vereinfacht und somit ausgedünnt werden. Konkret erwähnt hat die EU-Kommissionspräsidentin die Nachhaltigkeitsberichtserstattung (CSRD), das EU-Lieferkettengesetz (CSDDD) und die Taxonomie-Verordnung. Diese Rechtsakte wurden in der letzten EU-Legislaturperiode beschlossen und sind wesentliche Elemente des Green Deal. Nun steht die EU-Kommission offenbar kurz davor, diese Regelungen deutlich abzuschwächen, indem Berichtspflichten reduziert werden. Es handelt sich um ein fatales Signal. Die Rechtsstaatlichkeit und Glaubwürdigkeit der EU werden massiv beschädigt, wenn in eben erst beschlossene Rechtsakte eingegriffen wird. Außerdem führt dies zu Planungsunsicherheit für Unternehmen. Es werden zudem jene Mitgliedstaaten und Unternehmen, die bei der Umsetzung von EU-Recht vorangehen, bestraft, während jene belohnt werden, die zögern. Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft sprechen sich gegen das geplante Omnibus-Paket aus und fordern die EU-Kommission auf, die Regeln aufrecht zu erhalten.
Lobbying der Wirtschaftsverbände
Am Beginn der neuen EU-Gesetzgebungsperiode ist einmal mehr auf das ungleiche Kräfteverhältnis beim Lobbying in Brüssel hinzuweisen: Auf 100 Wirtschaftsvertretungen kommen in etwa zwei Arbeitnehmer:innenvertretungen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich in der EU-Legislaturperiode 2019 – 2024 fast ausschließlich mit Vertreter:innen der Wirtschaft getroffen. In Sachen Lobbytransparenz gibt es zwar einen Erfolg zu vermelden – seit Jahresanfang müssen im Transparenzregister der Kommission nicht mehr nur die rund 400 Spitzenbeamt:innen, sondern darüber hinaus auch alle Beamt:innen bis zur Referatsleitungsebene ihre Lobbytreffen eintragen – die Gesamtsituation bleibt jedoch unverändert. Umso mehr müssen Gewerkschaften entschieden dagegenhalten, wenn Stimmen aus der Wirtschaft eine Verwässerung von Rechtsvorschriften wie dem EU-Lieferkettengesetz fordern. In einem gemeinsamen Statement appellieren die europäischen Gewerkschaftsverbände an die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten, die Gesetzgebung in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen und das EU-Lieferkettengesetz nicht auszuhöhlen.
Ausblick
Am 28. November 2024 fand in Brüssel eine Diskussionsrunde mit der Präsidentin der Bundesarbeitskammer Renate Anderl und hochkarätigen Vertreter:innen aus den EU-Institutionen und Sozialpartnern zum Thema „Gute Arbeits- und Lebensbedingungen schaffen“ statt. Renate Anderl betonte: „Gerade jetzt, wo die Wettbewerbsfähigkeit der EU im Zentrum der Politik steht, müssen wir das soziale Europa voranbringen. Denn eine Gesellschaft, in der Menschen von ihrem Lohn nicht mehr leben können und die immer mehr gespalten ist, ist keine wettbewerbsfähige Gesellschaft.“
Die Vereinfachung von Rechtsvorschriften und „Bessere Rechtsetzung“ stehen am Beginn der EU-Legislaturperiode im Fokus und werden voraussichtlich die kommenden Jahre prägen. Der für Wirtschaft und Produktivität, Umsetzung und Vereinfachung zuständige Kommissar Valdis Dombrovskis hat die Aufgabe, den gesamten EU-Besitzstand einem Stresstest zu unterziehen, mit dem Ziel, „Überschneidungen und Widersprüche zu beseitigen und gleichzeitig hohe Standards aufrechtzuerhalten“. Darüber hinaus gibt es noch weitere geplante Initiativen der Kommission, die kritisch zu analysieren sein werden im Hinblick auf deren Auswirkungen für die Vielen.
Weiterführende Informationen
AK EUROPA: Gemeinsamer offener Brief an Ursula von der Leyen. Mensch, Natur und Demokratie schützen (nur Englisch)
AK EUROPA: Bessere Rechtsetzung/Better Regulation. Auf Kosten der Arbeitnehmer:innen und Umwelt?
AK EUROPA: EU Better regulation. Creating a level playing field for businesses at the expense of social and environmental policies (nur Englisch)
Social Europe: Better regulation? Capital first, society second (nur Englisch)