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ZurückGeschlossene Grenzen, kilometerlange Staus: Im Zuge der Corona-Krise werden von einem Tag auf den anderen zentrale Errungenschaften der Europäischen Integration außer Kraft gesetzt. Die Europäische Kommission versucht derweil, nationale Alleingänge zu regeln und den ungehinderten innereuropäischen Güterverkehr wiederherzustellen – zulasten der Beschäftigten in der Transportbranche.
Ob zwischen Österreich und Ungarn, Italien und Österreich, Deutschland und Polen oder Polen und Litauen: An vielen Grenzübergängen innerhalb der EU gab es seit Ausbruch der Krise kilometerlange Staus von LKW und Wartezeiten bis zu 24 Stunden, da Mitgliedstaaten zur Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus Gesundheitskontrollen eingeführt oder die Grenzen völlig geschlossen haben. Hinzu kommen nationale Ausnahmeregelungen: So haben viele Mitgliedstaaten bereits verlautbart, dass die Lenkzeiten ausgeweitet und die Ruhezeiten auf nationaler Ebene reduziert werden. Deutschland hatte zwischenzeitlich auch eine Lockerung der Kabotage ins Spiel gebracht, die nun allerdings auf Grund des Widerstands von Branchenverbänden wieder zurückgenommen wurde.
Die Arbeitsbedingungen für die „systemrelevanten“ LKW-FahrerInnen war dabei zweitrangig: Auf Grund von geschlossenen Raststätten herrschen teilweise katastrophale Arbeitsbedingungen, wie etwa fehlender Zugang zu sanitären Anlagen, Lebensmitteln oder sogar Trinkwasser. Durch die nationalen Alleingänge bei den Lenk- und Ruhezeiten kam es sogar vor, dass FahrerInnen in einem Land eine Strafe für längeres Fahren erhielten, das in anderen Ländern jedoch erlaubt ist. Die Corona-Krise wirkt somit wie ein Brennglas auf die ohnehin schwierigen Arbeitsbedingungen in einer Branche, die seit Jahrzehnten mit den Folgen von Lohn- und Sozialdumping kämpft. Am 22. März rief der sozialdemokratische Europaabgeordnete Ismail Ertug gemeinsam mit Johan Danielsson die Kommission und die zuständigen MinisterInnen in einem Brief dazu auf, Maßnahmen gegen diese Missstände zu setzen.
Die Europäische Kommission reagierte auf die Grenzschließungen durch die Mitgliedstaaten und veröffentlichte am 23. März 2020 Leitlinien zur Einführung von „Grünen Fahrspuren“ entlang des europäischen Hauptverkehrsnetzes. Damit will sie gewährleisten, dass der Güterverkehr wieder reibungsfrei fließen kann. Die Mitgliedstaaten sollen sicherstellen, dass die Wartezeiten an den Grenzen nicht länger als 15 Minuten dauern. Gesundheitskontrollen sollten sich auf elektronische Temperaturmessungen der FahrerInnen beschränken und übrige Kontrollen auf ein Minimum reduziert werden. Fahrverbote, wie das Nachtfahrverbot oder das Wochenendfahrverbot, sollen aufgehoben werden. Dafür soll es den FahrerInnen ermöglicht werden, die regulären wöchentlichen Ruhezeiten von 45 Stunden einen Monat lang im LKW verbringen zu können. Diese Regelungen sollen für den Transport aller Güter gelten, und nicht nur begrenzt auf essenzielle Transporte wie sanitäre Produkte oder Nahrungsmittel.
Der Schwerpunkt der Leitlinien zeigt klar, dass sich die Kommission in erster Linie um den freien Warenverkehr und die Versorgungssicherheit der KonsumentInnen sorgt und dafür auch in Kauf nimmt, Sozialbestimmungen wie die Lenk- und Ruhezeiten für BerufskraftfahrerInnen außer Kraft zu setzen. Anstatt die Mitgliedstaaten zu verpflichten, die Versorgung der FahrerInnen zu gewährleisten, werden die Arbeitsbedingungen der FahrerInnen somit zusätzlich verschärft.
Dementsprechend kritisiert die Europäische TransportarbeiterInnenföderation das Fehlen von Vorgaben zum Schutz der FahrerInnen, die ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um den Warentransport in Europa aufrecht zu erhalten. Sie fordert, dass das Wohlergehen von FahrerInnen nun besonders geschützt werden. Aufgrund der geänderten Öffnungszeiten bzw. Schließungen von Raststätten müsse dringend sichergestellt werden, dass FahrerInnen Dusch- und Toilettenmöglichkeiten, aber auch Einkaufsmöglichkeiten haben, um sich selbst versorgen zu können.
Aus Sicht von Arbeiterkammer und Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida ist klar: Die Corona-Krise darf kein Freibrief für die Überschreitung von Lenkzeiten sein, und die Einhaltung von Ruhezeiten und damit die Erholungsphasen der FahrerInnen müssen gewährleistet sein. Außerdem müssen die Unternehmen sicherstellen, dass den FahrerInnen Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt wird, wenn diese danach verlangen. Firmen, die beliefert oder bei denen Waren abgeholt werden, müssen ebenfalls faire Bedingungen für die LenkerInnen schaffen, wie etwa den Zugang zu Toilettenräumen und Verpflegungsangeboten. Überdies wäre eine koordinierte europäische Lösung wünschenswert, statt ein sozialpolitischer Flickenteppich, der sich über ganz Europa erstreckt.
In der aktuellen Krise mehren sich auch wieder die Stimmen aus einigen neuen EU-Mitgliedstaaten, das Mobilitätspaket zu überarbeiten. Dieses Paket beinhaltet unter anderem die Überarbeitung der Lenk- und Ruhezeiten und zählte zu den umstrittensten Dossiers der vergangenen EU-Wahlperiode. Der Forderung nach einer Lockerung der sozialrechtlichen Bestimmungen zu Lasten der BerufskraftfahrerInnen ist aus Sicht der Arbeiterkammer eine klare Absage zu erteilen.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA Policy Brief: Monetary value of social dumping in road transport
AK EUROPA: Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen Fahrverboten?
AK EUROPA: Kurzarbeit in der Corona-Krise: Österreich als Vorbild
AK-Anderl und vida-Hebenstreit: "Arbeitsbedingungen für Lkw-FahrerInnen verbessern"