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ZurückEin gut funktionierendes europäisches Eisenbahnsystem ist für die Mobilitätswende und einen gerechten grünen Übergang von entscheidender Bedeutung. Die Liberalisierung des Schienenverkehrs lässt nach zwei Jahrzehnten Folgen sichtbar werden, die auch im Interesse der Arbeitnehmer:innen, der Fahrgäste und des notwendigen Kampfes gegen die Klimakrise diskutiert werden müssen. Zu diesem Zweck hat AK EUROPA gemeinsam mit der österreichischen Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida und der European Transport Workers Federation (ETF) im April 2024 eine Veranstaltung in Brüssel organisiert.
Im Zuge der Veranstaltung wurde die Entwicklung des europäischen Schienenverkehrs von wissenschaftlicher, politischer und gewerkschaftlicher Seite betrachtet. Im Mittelpunkt standen folgende Fragen: Wie kann der öffentliche Schienenverkehr gestärkt und für die Menschen in Europa zugänglicher gemacht werden? Wie lässt sich die Attraktivität des Sektors für Arbeitnehmer:innen steigern? Welche Erfahrungen wurden mit der Liberalisierung gemacht? Vor welchen Herausforderungen steht der Sektor im Lichte der EU-Klimaziele
Wissenschaftliche Erkenntnisse für ein Bahnsystem, das funktioniert
Tim Engartner, Sozialwissenschaftler an der Universität zu Köln, legte zunächst den Grundstein für die Diskussion, indem er zehn Lehren aus den Bahnsystemen Deutschlands, Schwedens und der Schweiz identifizierte. Privatisierung, Deregulierung und die Liberalisierung des Verkehrssektors haben staatliche Verkehrsplanung zurückgedrängt. Der Schienenverkehr ist beim Gütertransport seit 1995 rückläufig und hat sich im Personenverkehr lediglich stabilisiert. Die Investitionen in die Bahninfrastruktur variieren stark zwischen den EU-Staaten, und der liberalisierte EU-Verkehrsmarkt habe nicht zwangsläufig zu verbesserten Dienstleistungen geführt. Engartner plädierte für staatliche Investitionen, eine Bündelung von möglichst vielen Teilbereichen in einer Hand (vertikale Integration) im Betrieb der Bahnsysteme, mehr staatliche Regulierung und Direktvergabe. Denn der Druck zu Rentabilität habe nicht zuletzt eine Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse mit sich gebracht. Um den Schienenverkehr zu fördern, seien eine Stärkung nationaler Eisenbahnmärkte und die schrittweise Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums entscheidend.
Ein Sektor im Wandel: Folgen der Liberalisierung
In der anschließenden Podiumsdiskussion, die von Sabrina Ropp (Wiener Stadtwerke) moderiert wurde, betonte Livia Spera, Generalsekretärin der European Workers Transport Federation (ETF), dass der Status der Eisenbahnunternehmen als zuverlässige Arbeitgeber mit guten Arbeitsbedingungen durch die Liberalisierung verloren gegangen sei. Dies stehe auch in einem Zusammenhang mit dem steigenden Arbeitskräftemangel im Sektor. Arbeitnehmer:innen würden als Kostenfaktor gesehen und aufgrund fehlender Ressourcen zunehmendem Druck ausgesetzt sein. Dies würde zeigen, dass profitablere Bahnverbindungen eben nicht automatisch zu besseren Arbeitsbedingungen führen.
Sandro Santamato von der Generaldirektion Mobilität und Verkehr (DG MOVE) der EU-Kommission betonte die Bedeutung der regulierenden Rolle der EU-Kommission bei der Entwicklung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums. In diesem Sinne habe sie bereits verschiedene kleinere Initiativen ergriffen, die schrittweise zu einer Verbesserung des Schienenverkehrs in Europa beitragen und den Wettbewerb und einen offenen Markt für Verkehrsunternehmen weiter fördern sollen. Er bekräftigte, dass die DG MOVE beim Eisenbahnverkehr die von den Gewerkschaften verteidigte Direktvergabe nur als Ausnahme betrachte und wettbewerbliche Ausschreibungen bevorzuge. Aber auch öffentliche Mittel und Investitionen seien notwendig.
Die „unsichtbare Hand des Marktes“ regelt nicht alles
Um die EU-Klimaziele erreichen zu können, müsse sich die EU von neoliberalen Paradigmen verabschieden, meinte hingegen Lukas Oberndorfer, Leiter der Abteilung Klima, Umwelt und Verkehr der AK Wien. Mobilitätspolitik werde als Wettbewerbspolitik missverstanden, anscheinend solle der Markt die Herausforderungen des Übergangs lösen. Die Liberalisierung habe aber nicht zur notwendigen Interoperabilität geführt, sondern zu Deregulierung und Bürokratie. Er problematisierte, dass die von der EU-Kommission im Juni 2023 veröffentlichten Leitlinien zur PSO-Verordnung (Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße) wettbewerbliche Ausschreibungen der Direktvergabe vorziehen. Das verstoße jedoch gegen EU-Recht und zeige, dass die EU auf dem falschen Weg sei.
Christian Wolmar, britischer Autor, Journalist und Mitglied der Labour Party, gab einen kurzen Überblick über die Entwicklung des britischen Eisenbahnsystems. Obwohl es Bereiche gebe, in denen Wettbewerb nützlich sein könne, sei er im Allgemeinen für die Eisenbahnen schädlich. Eine vertikal organisierte Institution zu haben, die die Eisenbahn unter Berücksichtigung sozialer und kommerzieller Aspekte betreibt, sei unschlagbar. Neben der Privatisierung sei daher die Trennung von Infrastruktur und Bahnbetrieb ein Grundproblem. Für Wolmar ist die Eisenbahn ein integraler Bestandteil der europäischen Gesellschaften, sie könne sich positiv auf die Umwelt, die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden auswirken, es gehe um mehr als Profit. Dazu sollte die EU aufklären, Initiativen ergreifen und Strukturen vereinfachen.
Lichtblicke für ein Europäisches Eisenbahnnetz
Ziel der EU müsse es sein, so Oberndorfer, ein qualitativ hochwertiges europäisches Bahnsystem zu schaffen, das soziale und ökologische Dimensionen mitdenkt und positive Effekte für Arbeitnehmer:innen, Fahrgäste sowie Umwelt und Klima erzielt. Hierfür seien öffentliche Mittel, wie im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF), und eine gezielte Besteuerung des Flug- und Straßenverkehrs erforderlich. Auch die europäische Industriepolitik müsse den Schienenverkehr berücksichtigen und die Produktion in Europa fördern. Eine europäische Beschäftigungspolitik, die Bahn- und Sicherheitsstandards harmonisiert und attraktive Arbeitsplätze schafft, sei notwendig, um die benötigten Arbeitskräfte für den Sektor zu mobilisieren. Auch Spera wünschte sich von der neuen EU-Kommission eine Verkehrspolitik, die Maßnahmen setzt, um den Schienenverkehr gegenüber den Alternativen in der Luft und auf der Straße attraktiver machen.
Abschließend bekräftigte Santamato das Ziel der EU-Kommission, den gemeinsamen europäischen Schienenverkehr voranzutreiben, indem eine vereinheitlichte Verwaltung, die Harmonisierung technologischer Standards und auch die Produktion von Schienenfahrzeugen in Europa gefördert werden sollen. Es sei zwar noch ein weiter Weg dorthin, die Suche nach digitalen Lösungen zur Bewältigung der Herausforderungen des Sektors sei jedoch bereits im Gange.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA Veranstaltung: Lehren aus der Liberalisierung des Schienenverkehrs
AK EUROPA Positionspapier: Gemeinsame Regeln für bestimmte Beförderungen im Kombinierten Güterverkehr zwischen Mitgliedstaaten
AK Studie: Gutachterliche Stellungnahme zum Entwurf der Leitlinien zur PSO-Verordnung
AK EUROPA Policy Brief: The importance of Direct Awards for the European Railway System (nur Englisch)
AK EUROPA: Transeuropäische Verkehrsnetze: Fokus auf die Beschäftigten!
AK EUROPA: Fotogalerie zur Veranstaltung