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ZurückWenn die Staats-und RegierungschefInnen nächste Woche über den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas verhandeln, gibt es zwar Frauen, die physisch mit am Tisch sitzen – im Wiederaufbauplan kommen sie allerdings kaum vor. Eine Petition will das ändern.
Auch wenn sich die Kommission im Kontext des Europäischen Grünen Deals oder des Wiederaufbaus selbst zum Ziel setzt, „niemanden zurückzulassen“, scheint der Wiederaufbauplan gar 50 % der EuropäerInnen zu ignorieren. Dass Frauen die Coronakrise an vorderster Front bekämpften, als Pflegekräfte, im Einzelhandel oder als Ärztinnen, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Ebenso sind Frauen bzw. Sektoren, in denen Frauen stärker vertreten sind, überproportional von Arbeitslosigkeit und gekürzte Arbeitsstunden betroffen – auch, weil sie den Großteil der Sorgearbeit schultern und institutionalisierte Kinderbetreuung fehlt. Wenn letztere parallel zum Home-Office zu Hause stattfindet, sind es wieder Frauen, die mehr Sorgearbeit leisten und dafür beruflich zurückstecken, obwohl häufig beide Elternteile zu Hause sind. Die asymmetrischen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Geschlechter, die sich in schlimmster Form durch das Erleben von geschlechtsspezifischer Gewalt im sozialen Nahbereich äußern, könnte die Chance bieten, auch in Sachen Gleichstellung den großen Sprung nach vorn zu wagen.
Wiederaufbauplan: Grün, digital und ungerecht.
Aus einer gleichstellungspolitischen Perspektive hat die Kommission diese Chance mit der Prioritätensetzung des Wiederaufbauplans bereits verpasst. Eine systematische Betrachtung der Auswirkungen der Finanzhilfen auf die Gleichstellung der Geschlechter, etwa in Form eines „gender impact assessments“, wie sie im Rahmen des selbstverordneten Gender Mainstreamings Pflicht ist, blieb bislang aus. Trotz klarer vertraglicher Regelungen, nach denen alle EU-Aktivitäten zur Gleichstellung der Geschlechter beitragen müssen und der in diesem Jahr veröffentlichten Gleichstellungsstrategie, werden geschlechtsspezifische Unterschiede weder erwähnt noch gezielt adressiert. Eine von den Europäischen Grünen in Auftrag gegebene Studie zu ebendiesen geschlechtsspezifischen Auswirkungen stellt fest, dass die mobilisierten Finanzhilfen im Rahmen des „Next Generation EU“-Instruments und des InvestEU-Programms Sektoren begünstigen, die zum größten Teil männlich geprägt sind, so etwa das Bau-, Transport- und Energiewesen. Auf gleichsam umfangreiche Finanzhilfen können ArbeitnehmerInnen in den am schlimmsten betroffenen Sektoren, u.a. der Bildungs- Gesundheits-, Sozial-, und Dienstleistungssektor sowie das Gastgewerbe, in denen Frauen stark überrepräsentiert sind, derzeit nicht hoffen. Ein weiterer Kritikpunkt aus Gender-Perspektive ist die tragende Rolle des Europäischen Semesters bei der Inanspruchnahme von EU-Hilfsgeldern. Dessen länderspezifische Empfehlungen haben sich in der Vergangenheit oftmals kontraproduktiv für die Stärkung der Pflegewirtschaft erwiesen, sondern vielmehr auf Kosteneffizienz gepocht.
Gendergerechter Aufbau kommt allen zu Gute
Dabei gäbe es ein wirksames Konzept, um die vielbesprochene „Resilienz“ europäischer Volkswirtschaften nachhaltig zu fördern: Investitionen in Pflegeinfrastrukturen würden Arbeitsplätze schaffen und damit einen höheren ökonomischen Mehrwert generieren - zum Vorteil von Frauen, die größtenteils in diesem Sektor tätig sind. Die Attraktivität des Sektors, dessen Wachstumspotenzial mit Blick auf den demographischen Wandel unbestritten ist, würde durch verbesserte Arbeitsbedingungen wachsen. Zusätzlich zum Grünen Deal und zur digitalen Transformation sollten die enormen finanziellen Kraftanstrengungen also in eine geschlechtergerechte Neustrukturierung von Sorgearbeit fließen – in einen europäischen Care Deal.
Petition fordert #halfofit
Um der gleichstellungspolitischen Ignoranz der Kommission etwas entgegen zu setzen, startete die deutsche grüne Europaabgeordnete Alexandra Geese die Petition #halfofit, die für eine geschlechtergerechte Aufwendung der Finanzhilfen des Wiederaufbaufonds und des MFR wirbt. Unterstützt von zahlreichen WissenschaftlerInnen und Abgeordneten, unter ihnen auch die Vorsitzende des Gleichstellungsausschusses Evelyn Regner (S&D), fordern die UnterzeichnerInnen eine stringente geschlechtsspezifische Analyse der Mittel des Aufbaufonds und die Anwendung des Gender Budgeting. Dies soll garantieren, dass mindestens 50 % der Hilfsgelder Frauen zu Gute kommen. Neben Investitionen in Kinderbetreuungsinfrastrukturen und einer besseren partnerschaftlichen Aufteilung von Sorgearbeit sollen auch von Frauen geführte Unternehmen durch einen speziellen Fonds unterstützt werden. Unternehmen, die von staatlichen Beihilfen und Fondsgeldern profitieren, sollen ihrerseits Frauen in Führungspositionen fördern und sich für geschlechtergerechte Arbeitsplätze einsetzen.
Die Kommission ist angehalten, Versprechen der Gleichstellungsstrategie umzusetzen und Frauen im wirtschaftlichen Wiederaufbau nicht im Stich zu lassen. Wird diese Chance verpasst, könnten erhöhte ökonomische Unsicherheit und Armutsgefährdung von Europäerinnen die Folge sein. Zäh errungene gleichstellungspolitische Erfolge wären somit um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Neue Gleichstellungsstrategie veröffentlicht
AK EUROPA Policy Brief: Gender Pay Gap
AK EUROPA Policy Brief: Improving Conditions for Health Professionals and Live-in Care Workers
A&W Blog: Gerechtigkeit für die wahren Leistungsträger*innen