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ZurückAm 1. Februar 2024 erreichten der Rat und das EU-Parlament eine Einigung zum sogenannten Notfallinstrument für den Binnenmarkt, welches bereits im September 2022 von der EU-Kommission vorgeschlagen wurde. Mit diesem Instrument sollen die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen sowie der freie Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr auch in Krisenfällen für die Bevölkerung und Unternehmen gesichert bleiben. Das Instrument weist jedoch Schwächen auf, die zu Lasten der Arbeitnehmer:innen gehen.
Nach teils massiven Problemen im Zuge der COVID‑19‑Pandemie sowie des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine kamen die EU-Entscheidungsträger:innen nach und nach zur Erkenntnis, dass der EU-Binnenmarkt besser auf künftige Notfälle und Krisensituationen vorbereitet werden muss. Allerdings sind viele Probleme in einem neoliberal geprägten Binnenmarkt systembedingt. So weisen Gewerkschaften und die Arbeiterkammer (AK) seit Jahren darauf hin, dass die fast ausschließlich auf Marktfreiheiten und Wettbewerb ausgerichtete EU-Binnenmarktpolitik viel zu einseitig ist und die soziale Dimension ausblendet. Fest steht, dass es einer Neuausrichtung des Binnenmarktes bedarf.
Eine Gefahr für Grund- und Arbeitsrechte
Das neue Notfallinstrument für den Binnenmarkt sieht drei Stufen vor, nämlich die Eventualfallplanung, die Binnenmarktüberwachung und den Binnenmarktnotfall. In Abhängigkeit vom Schweregrad des Ereignisses werden unterschiedliche Maßnahmen ausgelöst. Damit einhergehend werden der EU‑Kommission weitreichende Befugnisse eingeräumt. Wie von der AK an früherer Stelle bereits kritisiert, ist diese Ermächtigung der EU-Kommission nicht zuletzt auch angesichts der sehr geringen Einbindung des EU‑Parlaments demokratiepolitisch bedenklich.
Bereits jetzt spielen Grundrechte und Arbeitsrechte im Konflikt mit den Marktfreiheiten eine untergeordnete Rolle. Dieses Ungleichgewicht verschärft sich in einer Krisensituation weiter zulasten der Arbeitnehmer:innen. Das findet jedoch in der derzeitigen Debatte kaum Berücksichtigung - ganz im Gegenteil. Im ursprünglichen Vorschlag der EU‑Kommission zum Notfallinstrument war die Streichung einer Verordnung vorgesehen, welche eine explizite Bestimmung zum Schutz von anerkannten Grundrechten enthält, insbesondere das Streikrecht. Insgesamt stellte der Vorschlag der Kommission sogar eine direkte Gefährdung von Grund- und Arbeitsrechten dar, die neben dem Streikrecht auch weitere arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen betraf. Im derzeitigen Kompromiss zwischen EU‑Parlament und Rat fehlt zumindest diese höchst bedenkliche Klausel, auf deren verheerende Folge für das Streikrecht Gewerkschaften wie auch die AK nachdrücklich hingewiesen hatten.
Es braucht Mitbestimmung durch die Sozialpartner
Jedoch bleibt das Instrument weiterhin eine heikle Angelegenheit, da es nach wie vor von einer veralteten Binnenmarktphilosophie getragen wird. Die EU-Kommission kann zum Beispiel bei Engpässen Unternehmen nur bitten, aber nicht dazu verpflichten, bestimmte Produkte und Dienstleistungen bereitzustellen. Derartige Schwächen des Regelwerks sollten behoben werden, um den Binnenmarkt tatsächlich zukunftsfit zu machen.
So bleiben auch strengere Anforderungen an Beschränkungen im Binnenmarkt insbesondere deswegen bedenklich, weil der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner Judikatur den Begriff der Beschränkung zumeist sehr weit auslegt. Sogar das gesamte Arbeits- und Sozialrecht könnte demnach als eine „potenzielle Beschränkung“ aufgefasst werden. Auch deshalb ist es notwendig, den Sozialpartnern, und insbesondere der Vertretung der Arbeitnehmer:innen, im vorgesehenen Beratungsgremium gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und der EU-Kommission ein Stimmrecht einzuräumen – und nicht einen bloßen Beobachterstatus wie bisher.
Die dargestellten Kritikpunkte legen den Schluss nahe, dass seitens der EU‑Kommission wenig Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass gerade Grund- und Arbeitsrechte in Krisensituationen geschützt werden müssen, anstatt diese zugunsten wirtschaftlicher Freiheiten aufzugeben und so eine Lawine problematischer Folgewirkungen loszutreten.
Einigung erzielt
Mit 1. Februar 2024 wurde eine vorläufige Einigung zwischen EU‑Parlament und Rat erzielt, die am 22. Februar im Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments bestätigt wurde und nun noch formal im Plenum des EU-Parlaments und im Rat beschlossen werden muss. Die Verordnung muss 18 Monate nach dem Inkrafttreten in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Wie vom EU‑Parlament gefordert, wird das Notfallinstrument für den Binnenmarkt, englisch bezeichnet als Single Market Emergency Instrument (SMEI), in „Internal Market Emergency and Resilience Act“ (IMERA) umbenannt. In der derzeitigen Einigung wird nun zumindest ein Mitglied des EU‑Parlaments im „Notfall- und Resilienzausschuss für den Binnenmarkt“ vertreten sein. Er/Sie soll für die Unterstützung und Beratung der EU-Kommission im Überwachungs- und Notfallmodus zuständig sein. Dass die Rolle der Sozialpartner dennoch nicht deutlich aufgewertet wurde, ist äußerst enttäuschend.
Für den belgischen Ratsvorsitz stellt die Einigung insgesamt jedoch einen Erfolg dar: „In Krisenzeiten muss die Union vermeiden, dass ungerechtfertigte Hindernisse geschaffen werden, und dabei die Grundrechte, einschließlich des Streikrechts, achten“, so Pierre-Yves Dermagne, belgischer Vizepremierminister und Minister für Wirtschaft und der Arbeit. Aus Sicht der AK dürfen Grundrechte wie das Streikrecht nicht infrage gestellt werden.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Bessere Umsetzung und Durchsetzung von Binnenmarktvorschriften
AK EUROPA: Positionspapier zum Notfallinstrument für den Binnenmarkt
AK EUROPA: Notfallinstrument für den Binnenmarkt: Anfängliche Kritik bestätigt sich
Arbeit & Wirtschaft: Streikrecht in Gefahr
EGB: Safeguarding the Right to Strike against Emergency Measures in the Single Market (nur Englisch)