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ZurückAm 6. Dezember 2022 beraten die Finanzminister:innen der EU-Mitgliedstaaten über die Leitlinien der EU-Kommission für eine Reform der Fiskalregeln. Diese sollen realistischere mittelfristige Ziele verfolgen sowie Reformen und Investitionen enthalten, die zwischen Kommission und Mitgliedstaat ausgehandelt werden. Was jedoch fehlt, ist eine umfassende Reform mit einer Ausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen, eine Demokratisierung der Entscheidungen durch eine Aufwertung des EU- Parlaments und eine Erweiterung des Budgetspielraums durch eine goldene Investitionsregel bzw einem neuen EU-Investitionsfonds.
Am 9. November 2022 präsentierte die EU-Kommission ihre Ideen für eine Reform des wirtschaftspolitischen Rahmens der EU. Dem Voraus ging eine langjährige Debatte über Sinn und Unsinn der europäischen Fiskalregeln mit Evaluierungen und Konsultationsprozessen, an der sich auch die AK beteiligte. Schien bis Anfang 2020 eine umfassende Reform nicht zuletzt an der starren Position der österreichischen Bundesregierung zu scheitern, brachte die Covid-19-Krise eine neue Dynamik: An eine Einhaltung der geltenden Regeln war nicht mehr zu denken, ihr Aussetzen die logische Konsequenz. Zur Bewältigung der beispiellosen Krise und zur Umsetzung des Green Deals folgte 2021 die Wachstums- und Wiederaufbaufazilität (Recovery and Recilience Facility, RRF), die eine Zäsur in der europäischen Wirtschaftspolitik darstellte: milliardenschwere Zuschüsse für mittelfristig ausgerichtete Reform- und Investitionspläne, finanziert durch Eurobonds. Bereits im Vorfeld der nun vorgelegten Mitteilung war klar, dass die EU-Kommission an der – vielfach positiv wahrgenommen – Erfahrung anknüpfen und diese Zäsur verstetigen möchte.
Im Mittelpunkt der Reformvorschläge der EU-Kommission stehen nun neuerlich mittelfristig ausgerichtete Reform- und Investitionspläne. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass keine Zuschüsse mehr vorgesehen sind. Statt Zuckerbrot soll nun das „nicht knallen lassen der Peitsche“ der Anreiz für die Mitgliedstaaten sein, die Pläne auch umzusetzen: Wenn diese ambitioniert ausfallen, soll den Ländern mehr Spielraum bei der Einhaltung der Fiskalregeln eingeräumt werden. Wie das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche in einer kürzlich veröffentlichten Studie analysiert, dürfte das jedoch nicht reichen, um insbesondere jene öffentlichen Investitionen tätigen zu können, die für die Erreichung der Klimaziele notwendig sind. Sie sprechen sich deshalb für die Einrichtung eines permanenten EU-Klima- und Energieinvestitionsfonds mit Zuschüssen im Ausmaß von mindestens 1 % der EU-Wirtschaftsleistung zur Finanzierung öffentlicher Investitionen aus. Dieser kann eine funktional adäquate Alternative zur goldenen Investitionsregel sein, die nach wie vor zwischen den Mitgliedstaaten umstritten ist.
Die beiden wesentlichen derzeit geltenden Regeln – die Obergrenze für das Defizit von 3 % des BIP sowie die langfristige Einhaltung des Staatsschulden-Grenzwerts von 60 % des BIP – bleiben nach den Vorstellungen der EU-Kommission unangetastet. Immerhin soll die erst vor einem Jahrzehnt eingeführte Zusatzregel, die die Einhaltung der 60 % innerhalb von 20 Jahren vorschreibt, wieder abgeschafft werden – auch mangels Umsetzbarkeit angesichts eines durchschnittlichen Brutto-Staatsschuldenstandes von zuletzt 94 % des BIP im Euroraum (und sogar 171 % in Griechenland). An ihrer Stelle tritt eine länderspezifische Analyse der EU-Kommission, ob die Fiskalpolitik nachhaltig gelten kann, abgestuft nach Staatsschuldenstand: Länder wie Irland, die die 60 % Grenze unterschreiten, sind weitgehend frei in ihrer Budgetpolitik. Länder wie Österreich, die nicht allzu weit über der Grenze liegen, müssen ihre – um konjunkturelle Effekte, steuerliche Veränderungen, EU-finanzierte Investitionen und Zinsen korrigierte – Staatsausgaben zwar dämpfen, bekommen aber bei ambitionierten Reformen und Investitionen mehr Zeit für den Schuldenabbau. Und schließlich Länder wie Italien, die ihre Staatsausgaben stärker und schneller einschränken müssen. Die Einhaltung der Pläne soll weiterhin jährlich überprüft werden, mit schneller als bisher greifenden Sanktionen – die dafür allerdings weniger drakonisch sein sollen.
Die Finanzminister von Deutschland und Frankreich haben die Vorschläge der EU-Kommission bereits als Grundlage für die Verhandlungen akzeptiert. Diskussionspunkt wird sicher die neue Macht für die EU-Kommission sein, die weitreichenden Spielraum bei der Definition hätte, welche Budgetpfade als akzeptabel gelten und welche nicht. Dementsprechend schwierig ist eine vorläufige Bewertung des Kommissionsvorschlags, weil sie davon abhängt, welche EU-Kommission über die Einhaltung wachen wird: Spielt sie eine Rolle wie damals im Zuge der Troika-Verhandlungen in Griechenland, wird die Reform zu politischen Spannungen und Wohlstandsverlusten führen. Bleibt sie weiterhin ihrer aktuell umsichtigen und auf die Umsetzung des European Green Deal fokussierten Linie treu, wird eine Umsetzung ihrer Reformvorschläge wesentliche fiskalpolitische Verbesserungen bringen. Vieles hängt von der Ausgestaltung der Details ab, die die EU-Kommission noch schuldig geblieben ist.
Aus einer breiteren Perspektive über die Fiskalregeln hinaus ist aber schon jetzt zu kritisieren, dass die Reform zu kurz greifen wird: Anstatt die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen systematisch in den Mittelpunkt der Politikkoordinierung zu rücken, bleibt der Fokus auf Budgetziele – und damit der implizite ideologische Bias, dass die Wirtschaft umso besser funktioniere, je stärker der Staat zurückgedrängt würde. Entscheidende Fragen bleiben damit ausgespart: Wie können die Euro-Mitgliedstaaten in einer Wirtschaftskrise gegensteuern? Wie können sie gemeinsam ihre Budgetpolitik auf ein möglichst hohes und konvergentes Maß an Wohlstand und Wohlergehen ausrichten? Wie können die Bürger:innen über die politische Ausrichtung entscheiden, wenn das Europäische Parlament als ihre gewählte Vertretung außen vor bleibt?
Die Vermeidung übermäßiger Defizite ist als ein Ziel unter vielen durchaus sinnvoll, darf aber nicht mit absoluter Priorität losgelöst von aktuellen ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen betrachtet werden, die in der Regel mehr öffentliche Ausgaben erfordern. Die ergänzenden Reform- und Investitionspläne greifen hier zu kurz – eine Verbesserung gegenüber dem status quo wären sie aber allemal.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Economic Governance Review
AK EUROPA: Europa braucht eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes!