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ZurückOb Brüssel, Paris, London oder Wien: Auch in Europa fanden seit dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch Polizisten Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt statt. Am 17. Juni gab es dazu eine Aussprache im Plenum des EU-Parlaments.
Die Aussprache zur Bekämpfung von Rassismus hatte noch nicht begonnen, als die schwarze Abgeordnete der deutschen Grünen, Pierrette Herzberger-Fofana, eines klarstellte: Schwarze Menschen sind nirgendwo sicher vor Polizeigewalt und rassistischer Diskriminierung. Herzberger-Fofana berichtete, am Vorabend Opfer von Polizeigewalt geworden zu sein. Sie hatte ein Foto von neun PolizistInnen machen wollen, die zwei schwarze Personen drangsalierten. In der Folge drückten die PolizistInnen sie selber gegen die Wand, versuchten sie abzutasten und behandelten sie herabwürdigend. Trotz des Parlamentsausweises und des deutschen Reisepasses glaubten die PolizistInnen nicht, dass es sich um eine Abgeordnete des EU-Parlaments handle. Parlamentspräsident Sassoli sprach Herzberger-Fofana, die bereits Anzeige erstattet hatte, seine Unterstützung aus. Der Fall müsse mit den belgischen Behörden geklärt werden. Herzberger-Fofana selber mahnte, auch an die Menschen zu denken, für die Polizeigewalt Alltag sei, die sich aber oft nicht dagegen wehren könnten und ihr schutzlos ausgeliefert seien.
Kommission und Ratspräsidentschaft nahmen Stellung
Ursula von der Leyen begann ihre Rede mit einer simplen Feststellung, die doch so wichtig ist: Sie sei nicht schwarz und habe noch nie rassistische Diskriminierung erlebt. Sie stellte fest, dass die Vielfalt der Gesellschaft sich weder in der Zusammensetzung des Parlaments noch in der Kommission widerspiegelte, da die überwiegende Mehrheit weiß sei. Laut von der Leyen hätten Rassismus und Diskriminierung keinen Platz in der Europäischen Union, man habe viel zu lange zugesehen. Nach dem Motto „geeint in Vielfalt“ sei es nun an der Zeit, wachsam zu sein und die eigenen Privilegien in Frage zu stellen. Der Tod von George Floyd sei eine Alarmglocke, die auch von den EuropäerInnen gehört werden müsse. Die Repräsentantin der kroatischen Ratspräsidentschaft, Nikolina Brnjac, sprach sich ebenfalls entschieden gegen Rassismus und Diskriminierung aus und verwies auf die Grundrechtecharta, die in diesem Jahr ihren 20. Geburtstag feiere. Auch wenn Europa nicht mit den USA verglichen werden könne, gäbe es überall Rassismus. Ob sie damit auch die kroatische EU-Außengrenze meinte, an der es laut Asylsuchenden und Amnesty International immer wieder zu Fällen von roher Polizeigewalt und gravierenden Menschenrechtsverletzungen kommt, ließ sie offen.
Abgeordnete teilen persönliche Erfahrungen
Wie auch Pierrette Herzberger-Fofana teilten viele schwarze Abgeordnete und Abgeordnete of Colour ihre persönlichen Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung und solidarisierten sich mit der Black Lives Matter-Bewegung. Laut der Antirassismus-Organisation ENAR sitzen lediglich 24 schwarze Menschen oder Menschen of Colour im Europäischen Parlament; vor dem Brexit waren es immerhin noch 30. Demnach liegt der Anteil von nicht-weißen ParlamentarierInnen bei 3 %. Darunter ist beispielsweise die schwedische Grüne Alice Bah Kuhnke, die die lange kolonialrassistische Tradition Europas kritisierte und empfahl, zunächst „vor der eigenen Haustüre zu kehren“, statt nur auf die USA zu schauen. Eine Abgeordnete der liberalen Renew Europe-Fraktion wurde deutlich und nannte „neofaschistische Gruppen, wie es sie auch in diesem Haus gebe“, ein Teil des Problems. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten forderte eine konsequentere Bekämpfung von strukturellem und institutionellem Rassismus, der sich neben physischer Gewalt und sozialer Ausgrenzung ebenso in Form von ökonomischer Gewalt äußere. So habe auch die Corona-Pandemie wieder gezeigt, dass schwarze Menschen und Menschen of Colour dem Virus überdurchschnittlich stark ausgeliefert seien.
Viele Abgeordnete machten auf die lückenhafte Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung der EU aufmerksam. Die sogenannte Horizontale Richtlinie, die BürgerInnen auch vor Diskriminierung außerhalb des Arbeitsmarktes und damit in allen Lebensbereichen schützen soll, steckt seit 12 Jahren im Rat fest. Kommissionsvizepräsidentin Jourová versicherte, dass die Kommission und insbesondere die Gleichstellungskommissarin Helena Dalli dieses Anliegen weiterverfolge. Wie dringend diese Richtlinie gebraucht wird, beweist auch eine von der AK in Auftrag gegebene Studie: Demnach gaben in Österreich 57 % aller Befragten Menschen of Colour an, in den letzten drei Jahren auf Grund ihrer Hautfarbe oder ihres Akzents diskriminiert worden zu sein. Über eine Entschließung des Parlaments wird am Freitag abgestimmt.
Weltweite Proteste und Reaktionen
Anfang Juni nahm EU-Außenbeauftragter Josep Borrell Stellung zum Tod von George Floyd und verurteilte den „Machtmissbrauch“ jener, die eigentlich für Recht, Ordnung und die Sicherheit aller sorgen müssten. Auch der Rechtsausschuss des Europaparlaments befasste sich bereits am 5. Juni 2020 mit dem Thema. Zahlreiche PolitikerInnen solidarisierten sich weltweit mit der Black Lives Matter-Bewegung, wobei AktivistInnen zurecht darauf hinweisen, dass langfristige Unterstützung und Solidarität über ein Social Media Posting hinausgehen müsse. In Brüssel demonstrierten am 6. Juni 15.000 Menschen gegen Polizeigewalt und Rassismus. In Frankreich kämpft die Familie des von der Polizei ermordeten Adama Traoré, allen voran seine Schwester Assa Traoré, seit 2016 für Gerechtigkeit und die lückenlose Aufklärung seines Mordes. Unter dem Motto „Gerechtigkeit für Adama“ gingen am 13. Juni schon zum zweiten Mal Tausende Menschen in Paris auf die Straße.
Weiterführende Informationen:
Aussprache im Europäischen Parlament