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ZurückAngesichts geopolitischer Spannungen und der wachsenden Abhängigkeit von ausländischen Tech-Konzernen nimmt die Debatte über die technologische Unabhängigkeit Europas zunehmend an Fahrt auf. Die EU hat Rechtsvorschriften über digitale Märkte, digitale Dienste und KI beschlossen. Dennoch bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des wirtschaftlichen und sozialen Einflusses durch ausländische Tech-Giganten. Welche Risiken existieren aktuell und wie kann die EU digitale Souveränität erreichen? Wir haben mit Justin Nogarede, einem Experten für den digitalen Wandel, gesprochen.
Im Draghi-Bericht wurden Abhängigkeiten der EU im Digitalbereich benannt und die Notwendigkeit des Ausbaus der digitalen Infrastruktur (vor allem Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetze, Computing und KI) betont. Die EU-Kommission hat eine Vizepräsidentin für Technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie, Henna Virkkunen, mehrere EU-Initiativen wurden bereits ins Leben gerufen. Die Perspektive der Arbeitnehmer:innen fehlt jedoch oftmals in der Debatte, und erhebliche strukturelle sowie regulatorische Hindernisse stehen der Verwirklichung der digitalen Souveränität nach wie vor entgegen.
Justin Nogarede ist Senior Policy Officer am Kompetenzzentrum Zukunft der Arbeit der Friedrich Ebert Stiftung in Brüssel, mit den Schwerpunkten Datenschutz am Arbeitsplatz und politische Ökonomie der Digitalisierung. In der Vergangenheit war er unter anderem als Referent im Generalsekretariat der EU-Kommission tätig. Wir sprachen mit ihm über Herausforderungen und Fortschritte in Bezug auf die digitale Souveränität der EU.
AK EUROPA: Worum geht es bei der digitalen Souveränität und warum ist sie wichtig?
Nogarede: Es herrscht die Auffassung, dass die EU bei mehreren digitalen Schlüsseltechnologien hinterherhinkt. Oder genauer gesagt, dass wir bei der Bereitstellung dieser Technologien von ausländischen, hauptsächlich in den USA und einigen in China ansässigen Unternehmen abhängig sind. Dazu zählen beispielsweise alle Arten von Plattformen, die sich an Verbraucher:innen richten (E-Commerce, soziale Medien, Suchmaschinen, Browser), Cloud-Computing-Dienste, auf die Behörden, Universitäten und Krankenhäuser angewiesen sind, sowie Mobiltelefon-Betriebssysteme. Dies untergräbt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der EU, sondern auch die öffentliche Debatte, Demokratie und Arbeitsbedingungen. In den USA sind Privatsphäre, betriebliche Mitbestimmung und der öffentliche Raum zum Beispiel weniger wichtig als in vielen europäischen Ländern, und das spiegelt sich in der Gestaltung der US-Plattformen wider, die wir regelmäßig nutzen.
Darüber hinaus gibt es verschiedene Sicherheitsrisiken, da die USA und China ihre technologische Stellung nutzen, um europäische Unternehmen und Regierungen auszuspionieren. Die US-Regierung könnte große Cloud-Anbieter wie Microsoft, Amazon oder Google beispielsweise anlässlich eines Handelsstreits zwingen, ihren Betrieb in der EU einzustellen. Dies würde sofort öffentliche Dienstleistungen lahmlegen und für Chaos in der gesamten EU sorgen. Und das nicht nur hypothetisch. Microsoft hat bereits den E-Mail-Account des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs auf Druck der US-Regierung abgeschaltet.
AK EUROPA: Welche Strategie sollte die EU verfolgen?
Nogarede: Das Problem kann nicht im Handumdrehen gelöst werden. Es ist die Folge von jahrzehntelang mangelnden Investitionen und Ignoranz. Der Versuch, US-Tech-Giganten durch europäische zu ersetzen, würde natürlich unsere Abhängigkeit und die damit verbundenen Risiken verringern – aber das allein reicht nicht. Wir hätten nach wie vor Probleme mit Online-Diensten, die suchterzeugend sind, private Machtkonzentrationen ermöglichen und das soziale Gefüge schwächen. Die EU sollte umdenken. Die zentrale Herausforderung besteht darin, mehr öffentliche digitale Infrastrukturen aufzubauen anstatt nur den Aufstieg eines „europäischen Google“ zu fördern.
Mit anderen Worten, das Ziel besteht darin, sicherzustellen, dass digitale Technologien dem öffentlichen Interesse dienen. Wir müssen offene, interoperable und demokratische digitale Infrastrukturen aufbauen, die mit wichtigen Rechten wie Datenschutz in Einklang stehen. Das ist ein nachhaltigerer Weg zur Souveränität. Es ist wichtig, Ökosysteme zu unterstützen, die Zusammenarbeit und Innovation fördern, die auf gesellschaftlichen Bedürfnissen beruhen. Der Schwerpunkt sollte auf der Stärkung der Rolle der Bürger:innen und Schaffung einer widerstandsfähigen Infrastruktur liegen, die nicht anfällig ist für externen Druck.
AK EUROPA: Wie kann die EU sicherstellen, dass niemand zurückgelassen wird?
Nogarede: Indem wir digitale Technologie nicht als Selbstzweck sehen, sondern uns mit wichtigen Fragen beschäftigen wie: Wie können wir die Lebensqualität einer alternden Bevölkerung unterstützen? Und dann können wir uns fragen, ob digitale Technologie dafür nützlich ist oder nicht. Manchmal ja, manchmal nein. Derzeit werden diese Fragen aber nicht gestellt, weil der öffentliche Sektor das Technologiedesign privaten Akteuren überlassen hat. Der öffentliche Sektor sieht seine Rolle in erster Linie darin, Start-ups zu unterstützen und „Rahmenbedingungen“ für Innovationen zu schaffen, anstatt die Technologie in eine gesellschaftlich nützliche Richtung zu lenken. Die Entscheidungen werden derzeit von jenen getroffen, die viel Kapital kontrollieren. Sie entscheiden, wie Ressourcen zugeteilt werden, zum Beispiel im Bereich KI. Und sie sind nicht daran interessiert, gute Arbeitsplätze oder hochwertige öffentliche Dienstleistungen zu schaffen. Ihr Interesse ist es, Gewinn zu maximieren. Manchmal stimmt das mit dem öffentlichen Interesse überein, oft nicht.
Wir könnten Technologie viel besser nutzen, dazu müssten wir aber ändern, wer sie finanziert, baut und verwaltet. Im Moment sehe ich das nicht wirklich. Die EU will zig Milliarden in KI investieren, übernimmt dabei aber die technologische Vision privater Akteure aus den USA. Man sieht „OpenAI“ und denkt, oh, wir müssen skalieren, wir müssen auch ein Large Language Model bauen – in der Annahme, dass irgendwie etwas Gutes dabei herauskommt. Das ist aber nicht automatisch der Fall. Der öffentliche Sektor muss hier besser werden.
AK EUROPA: Wie können wir anfangen, die Dinge anders zu machen?
Nogarede: Öffentliche Stellen sollten technologisches Fachwissen aufbauen und mehr Verantwortung für die digitalen technologischen Aspekte der von ihnen erbrachten öffentlichen Dienstleistungen übernehmen – dies sollte ein wesentlicher Teil ihres Auftrags sein. Entsprechend ausgestattet könnten sie experimentieren und lokale Plattformen zur öffentlichen Nutzung schaffen, zum Beispiel im Bereich Pflege, Mobilität etc. Online-Plattformen sind eine großartige Technologie – sehr effizient beim Zusammenführen von Angebot und Nachfrage. Aber sie sind meist in privater Hand und ihre Marktmacht geht zu Lasten der lokalen Wirtschaft. Ein Beispiel ist Uber, das bis zu 20-30% bei jeder Fahrt mitschneidet. Geld, das aus der lokalen Wirtschaft gesaugt wird und oft im Ausland landet. Uber ist ein bekanntes Beispiel, Plattformen vermitteln mittlerweile aber zunehmend alle Arten von wirtschaftlichen Aktivitäten, von Pflege und Babysitting bis hin zur Zustellung von Essen und Lebensmitteleinkäufen.
Wären solche Plattformen öffentlich oder zumindest mit Blick auf das öffentliche Interesse konzipiert, könnten sie wichtige kollektive Interessen fördern, wie z.B. ein angemessenes Entgelt, Bezahlung von Sozialversicherungsleistungen und algorithmische Transparenz für Fahrer:innen, oder Ergänzungen zum öffentlichen Verkehrsnetz. Um erfolgreich zu sein, bräuchte es jedoch Anreize wie Steuererleichterungen. Öffentliche Gelder sollten für digitale Technologien ausgegeben werden, die die Werte der EU widerspiegeln, und wenn möglich für Anbieter, die hier Steuern zahlen.
AK EUROPA: Was muss sich langfristig ändern?
Nogarede: Die EU sollte die Digitalisierung mehr als Instrument und weniger als ultimatives Ziel betrachten. Die EU-Kommission legt in Dokumenten wie der Strategie für die digitale Dekade oder dem Aktionsplan für den KI-Kontinent die Annahme zugrunde, dass Digitalisierung immer großartig ist, dass wir immer mehr davon machen und sicherstellen sollten, dass alle mit KI arbeiten. Wir kopieren die USA. Das ist eine schlechte Strategie. Wenn wir stattdessen ein klar artikuliertes öffentliches Ziel hätten, wie zum Beispiel mehr technologische Unabhängigkeit oder eine besser ausgebildete Bevölkerung, würden wir nicht Unsummen in die Entwicklung und Einführung von Large Language Models investieren. Wir hätten ein viel differenzierteres Verständnis von dem, was wir brauchen.
Dieses Interview wurde original auf Englisch geführt und ausschließlich die englische Version wurde von Justin Nogarede autorisiert. Die in diesem Interview geäußerten Positionen spiegeln nicht zwingend die Position der AK wider.
Weitere Informationen:
FES: Policy Study: Time to build a European digital ecosystem (nur Englisch)
FES Future of Work: Wage Against The Machine (nur Englisch)
ETUC: Artificial Intelligence for Workers, Not Just for Profit: Ensuring Quality Jobs in the Digital Age (nur Englisch)
AK EUROPA: Künstliche Intelligenz. Chancen und Risiken für Arbeitnehmer:innen
AK EUROPA: Digitale Fairness für Konsument:innen