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ZurückDie EU-Mindestlohnrichtlinie wurde 2022 beschlossen und ist ein Meilenstein des sozialen Europas. Sie schafft einen Rahmen für die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen und die Förderung von Kollektivverhandlungen. Dänemark ist mit der Richtlinie nicht einverstanden und hat 2023 eine Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingebracht, unterstützt von Schweden. Der EuGH prüft nun die Aufhebung der Richtlinie. Starke rechtliche Argumente sprechen für deren Beibehaltung. Ob der EuGH diese Argumente aufgreift, bleibt abzuwarten.
In der EU sind Mindestlöhne sehr unterschiedlich geregelt. Von den 27 EU-Staaten haben 22 einen gesetzlichen Mindestlohn. In den übrigen fünf Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden, Italien, Österreich) wird die Lohnhöhe mittels Tarifverhandlungen (in Österreich: Kollektivverhandlungen) festgelegt. Die Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten sind vom europäischen Gesetzgeber zu achten; die Mindestlohnrichtlinie enthält daher einen Rahmen, der auf beide Arten der Lohnfindung eingeht.
Was steht auf dem Spiel?
Aus der Sicht von Gewerkschaften sind Kollektivverhandlungen der beste Weg, um faire Löhne festzulegen. In Österreich liegt die Kollektivvertragsabdeckung bei 98%. Fast alle Arbeitnehmer:innen kommen somit in den Genuss von Rechten und Ansprüchen, die nicht in Gesetzen geregelt sind. In einigen anderen EU-Mitgliedstaaten wurden die Tarifverhandlungsstrukturen in den letzten Jahrzehnten jedoch mehr und mehr geschwächt. Laut der Folgenabschätzung zur Mindestlohnrichtlinie sank die Tarifvertragsabdeckung im EU-Durchschnitt von etwa 66 % im Jahr 2000 auf etwa 56 % im Jahr 2018, wobei der Rückgang in Mittel- und Osteuropa besonders stark war. Länder wie Polen, Rumänien und Griechenland weisen eine besonders niedrige Abdeckung von unter 15% auf.
Artikel 4 der Mindestlohnrichtlinie sieht vor, dass alle Mitgliedstaaten unter Beteiligung der Sozialpartner Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen ergreifen. Länder mit einer Tarifvertragsabdeckung von unter 80% müssen darüber hinaus einen Rahmen für Tarifverhandlungen schaffen und einen Aktionsplan entwickeln, um eine höhere Abdeckung zu gewährleisten.
Artikel 5 der Mindestlohnrichtlinie geht auf gesetzliche Mindestlöhne ein. Die Mitgliedstaaten müssen bei deren Festlegung bestimmte Kriterien und Referenzwerte zugrunde legen. Als Empfehlung nennt die Richtlinie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns. Diese Schwellenwerte sind nicht rechtsverbindlich, bieten jedoch eine starke normative Orientierung.
Nichtigkeitsklage von Dänemark
Anfang 2023 erhob die dänische Regierung, mit späterer Unterstützung Schwedens, Klage beim EuGH. Es wird argumentiert, dass die Richtlinie gegen EU-Recht verstoße und deren Nichtigerklärung beantragt. Weiters wird die Aufhebung von Artikel 4 (Förderung von Tarifverhandlungen) beantragt, sofern nicht die gesamte Richtlinie aufgehoben wird. Dänemark stützt sich auf Artikel 153 Absatz 5 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser besagt, dass die EU keine Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Arbeitsentgelts und des Koalitionsrechts (Recht, Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbände zu gründen und sich diesen anzuschließen) hat.
In Erwägungsgrund 19 der Richtlinie wird jedoch bereits klargestellt, dass die Richtlinie im Einklang mit Artikel 153 Absatz 5 AEUV ist, da sie weder darauf abzielt, die Höhe der Mindestlöhne in der Union zu vereinheitlichen noch einen einheitlichen Mechanismus für die Festsetzung von Mindestlöhnen zu schaffen. Sie greift nicht in die Freiheit der Mitgliedstaaten ein, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen oder den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz (…) zu fördern.
Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe b AEUV sieht eine EU-Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen vor, um bestimmte Ziele wie z.B. die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Die Mindestlohnrichtlinie wurde auf dieser Rechtsgrundlage erlassen, da sie zweifelsohne zu dem genannten Ziel beiträgt.
Schlussanträge des Generalanwalts
Eine Besonderheit im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ist die Rolle des Generalanwalts. Generalanwält:innen sind Jurist:innen, die den EuGH bei seiner Entscheidungsfindung unterstützen. Er oder sie hat die Aufgabe, einen Vorschlag für ein Urteil vorzulegen, in Form von sogenannten Schlussanträgen. Die Richter:innen müssen die in den Schlussanträgen formulierte Rechtsansicht nicht übernehmen, tun dies jedoch in vielen Fällen. Am 14. Jänner 2025 kam es zu einem Paukenschlag im Verfahren zur Mindestlohnrichtlinie: Der EuGH-Generalanwalt Nicholas Emiliou legte seine Schlussanträge vor. Er schließt sich dem Klagebegehren an und schlägt vor, die Richtlinie zur Gänze aufzuheben.
EU-Gesetzgebungskompetenz im Fokus
In seinen Schlussanträgen vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass die Ausnahme des Arbeitsentgelts (Artikel 153 Absatz 5 AEUV) aus der EU-Gesetzgebungskompetenz so auszulegen sei, dass die Kompetenzverteilung verletzt sei, sobald ein Rechtsakt das Ziel hat, Entgelt zu regeln. Dabei sei es unerheblich, ob die Höhe des Entgelts oder die Modalitäten zur Entgeltfestsetzung geregelt werden. Er argumentiert, dass jede Befassung mit dem Thema Entgelt einen unmittelbaren Eingriff darstelle. Ein solcher unmittelbarer Eingriff sei laut der EuGH-Rechtsprechung „Impact“ unzulässig.
Es gibt jedoch zahlreiche rechtliche Argumente, die gegen diese Sichtweise des Generalanwalts sprechen. Dieser hat in seiner Argumentation mehrere zentrale Aspekte unberücksichtigt gelassen. Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung stets betont, dass die Ausnahme des Arbeitsentgelts eng auszulegen ist. Die Entscheidung „Impact“ ist so zu interpretieren, dass ein unmittelbarer Eingriff nur dann erfolgt, wenn die Freiheit der Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie im Bereich des Arbeitsentgelts beschränkt wird – was bei der Mindestlohnrichtlinie nicht der Fall ist. In einer Gegenstellungnahme fasst der EGB die rechtlichen Argumente zusammen, die gegen die Aufhebung der Richtlinie sprechen. Im Rahmen des EU-Gesetzgebungsprozesses waren sich zudem alle Institutionen einig, dass die Kompetenzverteilung im Sinne des Artikel 153 Absatz 5 AEUV nicht verletzt wird; auch der Juristische Dienst des Rates gab grünes Licht. Dass die Richtlinie im Hinblick auf die sozialen Ziele der EU eine der wichtigsten Errungenschaften ist, wird in den Schlussanträgen völlig ignoriert.
Ausblick
Die Mindestlohnrichtlinie greift nicht in die Art und Weise der Lohnfindung in den Mitgliedstaaten ein, sondern bietet Orientierung und Unterstützung bei der Festlegung angemessener Mindestlöhne sowie der Förderung von Tarifverhandlungen. Insgesamt soll die Richtlinie dazu beitragen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen, insbesondere die Angemessenheit der Mindestlöhne in der EU zu verbessern, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern (Artikel 1 der Mindestlohnrichtlinie). „Diese Richtlinie ist absolut notwendig, weil die Lohnschere zwischen den alten und den sogenannten neuen Mitgliedstaaten immer noch groß ist“, weist EGB-Präsident Wolfgang Katzian auf die Relevanz der Richtlinie hin. Gewerkschaften werden sich daher ungeachtet der bevorstehenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs weiterhin unermüdlich für bessere Löhne und eine höhere Kollektivvertragsabdeckung einsetzen.
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Die Mindestlohnrichtlinie. Paradigmenwechsel für ein soziales Europa
A&W Blog: Steht die EU-Mindestlohnrichtlinie vor dem Aus?
EGI: EU Minimum Wage Directive before the European Court of Justice (nur Englisch)
EGI: Why the Directive on Adequate Minimum Wages does fit within EU competence (nur Englisch)
EGB: counter opinion on minimum wage directive case (nur Englisch)
WSI: Die EU-Mindestlohnrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof