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ZurückDer europäische Binnenmarkt feiert sein 30-jähriges Jubiläum, allerdings wurde aus dem Wohlstandsversprechen der EU in der Praxis für viele ein beinharter Kampf um die niedrigsten Standards, der oftmals auf dem Rücken der Arbeitnehmer:innen ausgetragen wird. Wie kann es gelingen, die EU zu einer wirklich sozialen Union umzubauen, Lohn- und Sozialdumping effektiv zu bekämpfen und faire Arbeitskräftemobilität zu garantieren? Hierzu diskutierten Gewerkschafter:innen aus Slowenien und Österreich und Vertreter:innen des Europäischen Gewerkschaftsbundes, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments im Rahmen einer von AK EUROPA und dem ÖGB Europabüro organisierten Veranstaltung in Brüssel.
Grenzüberschreitende Arbeitskräfteentsendungen nehmen in vielen Branchen stetig zu. Manche Mitgliedstaaten bieten Unternehmen hierfür sogar Vorteile an. Laut Tea Jarc, Präsidentin der slowenischen Gewerkschaft Mladi plus, schaffe beispielsweise die slowenische Rechtslage durch einen „Entsendebonus“ den Anreiz für Unternehmen, Arbeitnehmer:innen zu entsenden, um die Arbeitskosten zu senken: Viele slowenische Arbeitskräfte im Bau- aber auch Dienstleistungssektor würden in andere Mitgliedstaaten entsandt, wo ihnen zwar das gleiche Entgelt wie den inländischen Beschäftigten zustehe, es allerdings hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge ein Schlupfloch gebe. Die Beiträge werden vom bezogenen Gehalt entkoppelt, und die Unternehmen zahlen für die entsandte Arbeitskraft sogar weniger Beiträge, als wenn das gleiche Unternehmen die gleiche Arbeitskraft in Slowenien beschäftigen würde. In Folge haben die entsandten Arbeitskräfte dann nur einen wesentlich geringeren Pensionsanspruch. Benachteiligt werden dadurch aber nicht nur die Arbeitnehmer:innen, sondern auch im Zielland ansässige Unternehmen, die vergleichsweise höhere Beiträge zahlen und somit etwa bei Auftragsvergaben einen Wettbewerbsnachteil haben. Dagegen hat die AK bereits im Jahr 2019 bei der Europäischen Kommission Beschwerde eingelegt.
Missbräuchliche Entsendepraktiken
Auch eine andere, besonders vulnerable Gruppe an Arbeitnehmer:innen wird durch missbräuchliche Entsendepraktiken gefährdet: Drittstaatsangehörige werden immer öfter von Briefkastenfirmen angeworben und direkt in andere Mitgliedstaaten entsandt. Das entsendende Unternehmen übt dabei in den meisten Fällen gar keine Unternehmenstätigkeit im Herkunftsmitgliedstaat aus. Claes-Mikael Ståhl, stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, warnt vor einer hohen Dunkelziffer solcher Scheinentsendungen. MdEP Evelyn Regner, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, besteht auf die Einstufung solcher Praktiken als Missbrauchsfälle: „Es geht hier nicht um arbeitende Menschen, die kurzzeitig entsendet werden, sondern um ein Geschäftsmodell.“ Auch Josef Muchitsch (GBH) stellt klar: „Entsendungen innerhalb der EU dürften nicht dazu führen, dass Gewinne auf Kosten der Arbeitskräfte lukriert werden.“
Europäischer Rechtsrahmen und dessen Grenzen
Auf Unionsebene regelt die Richtlinie 96/71/EG die Entsendung von Arbeitnehmer:innen im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, um unlautere Praktiken zu unterbinden und das Prinzip der fairen Arbeitskräftemobilität zu fördern. Laut MdEP Evelyn Regner bieten die Entsenderichtlinie und deren Durchsetzungsrichtlinie bereits eine Fülle an Regelungen. Sie verortet in erster Linie ein Umsetzungsproblem: Auch, wenn bei der Richtlinie durchaus hoher Verbesserungsbedarf bestehe, hätten viele Mitgliedstaaten (darunter auch Österreich) diese noch nicht einmal richtig in nationales Recht umgesetzt. Dies bestätigte Gelu Calacean, Abteilungsleiter für Arbeitskräftemobilität der Europäischen Kommission. Man habe gegen zwei Drittel der EU-Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren wegen mangelhafter Umsetzung der Entsenderichtlinie eingeleitet.
Europäische Arbeitsbehörde (ELA) und Digitalisierung als Chance?
Im Jahr 2019 wurde die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) gegründet, um die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission dabei zu unterstützen, die EU-Vorschriften über Arbeitskräftemobilität und Sozialkoordinierung auf faire, einfache und wirksame Weise durchzusetzen. Unterstützt von der Gewerkschaft Bau-Holz und den Gewerkschaften anderer Mitgliedstaaten, wurden vom EGB und der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter (EFBWW) mittlerweile 10 Fälle von rechtsmissbräuchlichen Praktiken an die ELA übermittelt. Während einige eine weitere Stärkung der ELA und deren Kompetenzen fordern, sei die Arbeitsbehörde laut der Europäischen Kommission bereits mit einem weitreichenden Mandat ausgestattet. Sie brauche allerdings noch mehr Zeit, um sich zu etablieren und durch mehr Vertrauen auch mehr Einflussmöglichkeiten zu erlangen. Außerdem sehe man Digitalisierung als große Chance, Lohn- und Sozialdumping zu unterbinden, insbesondere indem die notwendige Kooperation zwischen den nationalen Arbeitsbehörden verbessert wird. Josef Muchitsch (GBH) betont: „Wenn ich bei Rot über eine Kreuzung in Rom fahre, bekomme ich in Österreich einen Strafbescheid – warum sollte eine digitale Kontrolle und grenzüberschreitende Zusammenarbeit also nicht auch bei Entsendungen möglich sein?“
Weiterführende Informationen:
AK EUROPA: Arbeitsbehörde: Einigung auf europäischer Ebene ein wichtiger Schritt
AK EUROPA: Auftakt für die Europäische Arbeitsbehörde
AK Wien: 10 Jahre ArbeitnehmerInnen-Freizügigkeit
AK Wien: AK Präsidentin nach EuGH-Urteil: „Strafen müssen abschrecken!“