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ZurückDie Coronakrise hat bestehende Ungleichheiten verschärft. Frauen und Personen in prekären und atypischen Arbeitsverhältnissen waren besonders betroffen. In der diesjährigen gemeinsamen Veranstaltung von EGI, EGB, ÖGB Europabüro und AK EUROPA zum Benchmarking Working Europe-Bericht wurde eines klar: Die Pandemie hat die massiven Schwachstellen unserer Wirtschaftspolitik offengelegt, und der Aufbau eines sozialeren Europas ist wichtiger denn je.
Der diesjährige Benchmarking Working Europe-Bericht gibt einen Überblick über die verschiedenen Ungleichheiten in Europa und zeigt, wie die Pandemie sowohl neue Dimensionen der Ungleichheit hervorbrachte als auch bestehende verschärfte. Der Vorsitzende der Arbeitnehmer:innengruppe im EWSA, Oliver Röpke, würdigte den Bericht als wichtige Ressource, um die Gewerkschaftsforderungen nach höheren Löhnen und stärkeren Kollektivvertragsverhandlungen zu unterstreichen. 24 Mio Arbeitnehmer:innen in der EU verdienen einen Lohn, der unter der Armutsgrenze liegt, und nur zwei von fünf Arbeitnehmer:innen erhalten kollektiv ausgehandelte Löhne. Laut Luca Visentini, Generalsekretär des EGB, dürfe die EU nicht einfach wieder zum Vorkrisen-Modell zurückkehren. Er forderte eine grundlegende und radikale Abkehr von der bisherigen Wirtschaftspolitik und eine Revision der Economic Governance-Regeln sowie neue Modelle im Sozialbereich, um angeschlagene nationale Sozialsysteme wiederaufzubauen.
Für Nicola Countouris und Agnieszka Piasna (beide vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut, EGI) ist Ungleichheit ein multidimensionales und strukturelles Problem und eine Folge unseres Wirtschafts- und Sozialmodells. Durch einen schnellen Roll-out des SURE Programms und nationaler Maßnahmen zur Arbeitsplatzerhaltung konnten EU-weit etwa ein Viertel der Arbeitnehmer:innen an diesen Programmen teilnehmen. Für Personen in prekären und atypischen Arbeitsverhältnissen standen diese Maßnahmen weit weniger zu Verfügung, wodurch bereits vor der Krise bestehende Ungleichheiten verschärft wurden. Die Corona-Krise beschleunigte auch viele Entwicklungen, die sich bereits vorher abzeichneten, etwa im Bereich Telearbeit, Gig-Economy und Digitalisierung. Dramatisch verstärkte die Pandemie auch geschlechtsspezifische Unterschiede, insbesondere im Bereich der unbezahlten Care-Arbeit. Bei der Kinderbetreuung übernahmen beispielsweise Frauen in der Pandemie durchschnittlich 62 Stunden pro Woche, im Vergleich dazu lag die Zahl bei Männern bei 36 Stunden pro Woche.
Evelyn Regner, Parlamentsabgeordnete der S&D-Fraktion, betonte, dass sowohl nationale als auch die EU-Aufbaupläne die geschlechtsspezifische Dimension berücksichtigen müssen. Sie plädierte für ein umfassendes Gender-Mainstreaming bei der Anwendung der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung und unterstrich die Wichtigkeit verbindlicher Maßnahmen von Seiten der EU. Um bestehenden Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen entgegenzuwirken, sind die laufenden Initiativen zu EU-Mindestlöhnen und zur Lohntransparenz wichtige Maßnahmen. Als wichtige Aktionsfelder sah Regner, dass Frauen auch verstärkt in Führungspositionen, sei es in Unternehmensvorständen, in Tarifverhandlungsteams, der EZB oder der Politik vertreten sein müssen.
Barbara Kauffmann, Direktorin in der Generaldirektion Beschäftigung der Europäischen Kommission, wies auf die Initiativen der Kommission zur Bekämpfung von Ungleichheiten, mit denen junge Erwachsene konfrontiert sind, hin. Als Reaktion auf den Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit legte die Kommission die Jugendgarantie vor, welche nun auf die bis zu 29-Jährigen ausgeweitet wurde. Dazu trägt auch das neue Programm ALMA bei, das speziell auf die Mobilität junger Erwachsener, die weder in Ausbildung noch in Beschäftigung sind, abzielt. Durch diese Maßnahme verfolgt die Kommission das Ziel, bis 2030 eine die Jugendarbeitslosigkeit von derzeit 12 % auf 9 % in der EU zu senken.
Sotiria Theodoropoulou vom EGI wies darauf hin, dass bis Jahresende 2021 nur 13 Mitgliedstaaten ihr reales BIP-Niveau von 2019 wieder erreicht haben werden. Vor allem vom Tourismus abhängige und südliche Länder erlitten die größten Verluste. Auffallend sei, dass trotz des enormen wirtschaftlichen Schocks zwischen 2019 und 2020 der insgesamte Anstieg der Einkommensungleichheit und des Anteils der von Armut bedrohten Personen in der EU nicht so stark ausfiel. Dies deute auf die Wirksamkeit öffentlicher Unterstützungsmaßnahmen hin. Wenn also der politische Wille vorhanden sei, gebe es sehr wohl einen alternativen Weg zur Austeritätspolitik, denn fiskalische Regeln seien nicht in Stein gemeißelt.
Prof. Simon Deakin sah in der Verstärkung der Rechte von Aktionär:innen, welche vor allem auch durch europäische Richtlinien vorangetrieben wurden, einen weiteren Grund für steigende Ungleichheit im Unternehmen. Dem gegenüber hätten sich die Rechte der Arbeitnehmer:innen im Unternehmen seit den 1990er Jahren nicht wesentlich verbessert, was dort zu einem massiven Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital zugunsten des Kapitals führte.
Prof. Kate Pickett forderte, dass politische Entscheidungsträger:innen die negativen Auswirkungen von Ungleichheiten endlich ausreichend beachten und dagegen aufrichtig vorgehen sollten. Da vertikale Ungleichheiten bezüglich Macht, Vermögen und Einkommen mit horizontalen Ungleichheiten bezüglich geographischer Herkunft und demographischer Identität eng miteinander verbunden seien, brauche es einen umfassenden Lösungsansatz. Um gegen die „Vererbung“ von Ungleichheiten vorzugehen, sei es essentiell, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt anzusetzen. Weiters sei bei der Krisenbewältigung Ungleichheit ein bestimmender Faktor: Länder mit größerer Einkommensungleichheit verzeichneten schlimmere Pandemieverläufe und eine höhere Rate überzähliger Todesfälle als Länder mit niedrigerer Einkommensungleichheit.