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ZurückDie EU befindet sich seit geraumer Zeit in einem globalen Wettlauf um Wettbewerbsfähigkeit. Die neue Binnenmarktstrategie der EU-Kommission soll dazu beitragen, hier die Nase vorne zu haben. Ziel ist es, all jene Hindernisse zu beseitigen, die Unternehmen beim Handel ihrer Waren und Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedsland als Erschwernis empfinden. Der Abbau sozialer und ökologischer Schutzstandards droht dabei in Kauf genommen zu werden.
Der EU-Binnenmarkt wurde vor mehr als 30 Jahren ins Leben gerufen. Mit 450 Millionen Verbraucher:innen und 26 Millionen Unternehmen macht er 18% der Weltwirtschaft aus. Europa ist heute mit einem Bruttoinlandsprodukt von 18 Bio. Euro der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Eines der Ziele des Binnenmarktes ist es, in der gesamten EU unbeschränkten Handel voranzutreiben. Dabei wurden die Zölle zwischen den Mitgliedstaaten längst abgebaut. Weiterhin werden aber zuallererst von Unternehmensseite national unterschiedliche Vorschriften etwa im Gesellschafts-, Steuer- und Arbeitsrecht als Markthürden für gebrandmarkt, sodass diese noch immer von 27 „getrennten Märkten“ sprechen.
Durch die neue Binnenmarktstrategie soll der EU-Binnenmarkt als Gegengewicht zur Unsicherheit auf dem Weltmarkt vertieft werden und als Motor für die europäische Wettbewerbsfähigkeit dienen. Die Kommission schätzt, dass ein Anstieg des Handels zwischen den EU-Ländern um 2,4 Prozent den durch Zölle verursachten Rückgang der US-Exporte um 20 Prozent ausgleichen würde.
Die neue Binnenmarktstrategie für die kommenden fünf Jahre, die die EU-Kommission am 21. Mai 2025 vorgestellt hat, basiert auf vorangegangenen Debatten. Im April 2024 wurde der Bericht „Mehr als nur ein Markt“ vom ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta veröffentlicht. Daraufhin forderte der Europäische Rat die EU-Kommission auf, die darin enthaltenen Empfehlungen weiterzuentwickeln und einen detaillierten Fahrplan vorzulegen. Die neue Strategie steht außerdem in engem Zusammenhang mit dem Draghi-Bericht zur EU-Wettbewerbsfähigkeit und dem kürzlich vorgelegten Wettbewerbsfähigkeitskompass.
Ein Binnenmarkt im Sinne von Unternehmen
Die neue Binnenmarktstrategie stützt sich auf neun Säulen, anhand derer der EU-Binnenmarkt „einfacher, nahtloser und robuster“ gestaltet werden soll. An erster Stelle steht die Beseitigung der zehn Hindernisse, die von Unternehmen als die „schrecklichen Zehn“ gemeldet wurden, wie zum Beispiel komplexe EU-Vorschriften, eine beschränkte Anerkennung von Berufsqualifikationen, mangelnde Produktkonformität, restriktive und divergierende nationale Vorschriften für Dienstleistungen, aufwendige Vorschriften für die Entsendung von Arbeitnehmer:innen in risikoarmen Sektoren sowie ungerechtfertigte territoriale Angebotsbeschränkungen.
Dies wird begleitet von einem neuen Fokus auf strategisch-relevante Dienstleistungen, da Dienstleistungen einen großen Teil der europäischen Wirtschaft ausmachen aber ihr grenzschreitender Handel momentan stagniert. Das wird begleitet von einem stärkeren Fokus auf KMUs und Start-Ups. Es wird eine neue Kategorie der „kleinen Unternehmen mit mittlerer Kapitalisierung“ (SMCs) eingeführt, die Betriebe mit bis zu 750 Mitarbeiter:innen und 150 Mio. Euro Jahresumsatz umfasst. Damit sollen künftig weitere 38.000 Unternehmen von einigen Vorteilen profitieren, die bisher nur für KMU mit bis zu 250 Mitarbeiter:innen galten. Zudem will man die neuen Mid-Caps beim Datenschutz entlasten.
Hinzu kommt ein viertes Omnibus-Paket für Unternehmen, das laut EU-Kommission bestehende Vorschriften vereinfachen und Digitalisierung zur Regel machen soll. Mit einem eigenen Rechtsrahmen (28. Rechtsregime) soll es Unternehmen erleichtert werden, in allen Mitgliedstaaten tätig zu sein. So möchte man jährlich Verwaltungskosten von Unternehmen in Höhe von 400 Mio. Euro einsparen. Um die Mitgliedstaaten in die Verantwortung zu ziehen, diese Pläne kohärent zu implementieren, drängt die EU-Kommission einerseits auf eine bessere Umsetzung der EU-Binnenmarktregeln und andererseits auf mehr „nationale Eigenverantwortung“. So soll jeder Mitgliedstaat eine Person als hochrangige:n Vertreter:in für den Binnenmarkt – einen „Binnenmarkt-Sherpa“ - ernennen, die Anwendung der Vorschriften überwacht. Die letzten beiden Säulen beziehen sich auf eine gezieltere Ausrichtung der EU-Finanzierung, sowie auf die Stärkung von Schutzmaßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken. Die Kommission plant Ende 2026 eine Bestandsaufnahme und gegebenenfalls 2027 einen neuen Vorschlag zur Verhinderung von Binnenmarkthindernissen zu unterbreiten.
Verschiedene Standpunkte im EU-Parlament
Nach Veröffentlichung der Binnenmarktstrategie, fand am 21. Mai im Rahmen eines Mini-Plenums des EU-Parlaments eine Aussprache zwischen den Parlamentsabgeordneten und dem zuständigen Kommissar Stéphane Séjourné statt. Vor allem konservative und liberale Abgeordnete begrüßten die vorgestellten Maßnahmen und pochten auf weniger Marktfragmentierung und weitere Deregulierung. Progressive Kräfte warnten davor, dass wichtige Schutzrechte im Sozial- und Umweltbereich der Marktliberalisierung zum Opfer fallen können und der Abbau von Vorschriften ohne Bewertung der sozialen Auswirkungen passiert. Sie sprechen sich für einen breiter angelegten Ansatz aus, der soziale Gerechtigkeit sowie umweltpolitische Dimensionen miteinschließt.
Arbeiterkammer warnt vor Aushöhlung wichtiger Schutzrechte
Die AK stellt klar, dass zentrale Rechte von Arbeitnehmer:innen und Verbraucher:innen nicht angegriffen werden dürfen und warnt vor Rückschritten in den Bereichen Datenschutz oder bei Sicherheits- und Nachhaltigkeitskennzeichnungen. Zudem sind die Folgen des angedachten 28. Rechtsregimes auf nationale Arbeits-, Steuer-, Vebraucher:innen- und Gesellschaftsrechte unklar. Eine Aushöhlung nach unten wird befürchtet. Die AK fordert Investitionen in den sozialen und ökologischen Umbau und eine Modernisierung der Energie- und Bahnnetze, statt eines Abbaus der Schutzstandards. Die Weiterentwicklung des Binnenmarktes darf nicht auf Kosten der arbeitenden Menschen gehen. Anstatt die Entsenderegeln von Arbeitskräften in andere Mitgliedstaaten zu verwässern, fordert die AK eine wirksamere Bekämpfung von grenzüberschreitendem Lohn- und Sozialdumping. Benötigt wird eine Binnenmarktstrategie, die mehr Sicherheit und Schutz für alle bietet. Dies umfasst starke Arbeitnehmer:innen- und Verbraucher:innenrechte, Rechts- und Planungssicherheit sowie moderne, klimafitte Infrastrukturen.
Weiterführende Informationen:
AK Wien: AK zu EU-Binnenmarktstrategie: “Vertrauen stärken statt Schutzstandards abbauen”
ÖGB: Katzian: Stärkung des EU- Binnenmarkts nur mit besseren Arbeitsbedingungen – nicht durch deren Abbau
Socialists & Democrats: S&D on the EU Single Market Strategy: consumers’ and workers’ rights cannot be used as a bargaining chip at the service of competitiveness (nur Englisch)
AK EUROPA: „Weit mehr als ein Markt“. Niemand zurücklassen im Binnenmarkt
POLITICO: Brussels tries (again) to build its elusive single market (nur Englisch)