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ZurückAngetrieben durch die massiven Bauernproteste hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den in ihrer Rede zur Lage der Union 2023 angekündigten Strategischen Dialog zur Zukunft der EU-Landwirtschaft intensiviert. Im Jänner 2024 wurden 29 Organisationen eingeladen, Perspektiven für die europäische Landwirtschaft zu erarbeiten. Nun liegt der Abschlussbericht vor.
Am 4. September 2024 übergab der Vorsitzende des Forums, Peter Strohschneider, der EU-Kommissionspräsidentin den Abschlussbericht des Strategischen Dialogs zur Zukunft der EU-Landwirtschaft. Auf etwa 110 Seiten widmet er sich den aktuellen Problemen der Landwirt:innen und Lebensmittelerzeuger:innen, der Herausarbeitung von zehn politischen Leitprinzipien und schließlich der Entwicklung umfassender Empfehlungen. Dabei konnte ein Konsens über ein gemeinsames und systematisches Vorgehen zur Bewältigung der wachsenden Herausforderungen erzielt werden. Worum ging es und wie wurde der Bericht aufgenommen? Was war das Außergewöhnliche an diesem Prozess?
Alte und neue Herausforderungen, aber breite Beteiligung am Dialog
Mit den massiven Bauernprotesten in vielen EU-Mitgliedstaten im Winter 2023/24 wurde die große Unzufriedenheit mit nationalen und EU-weiten Regelungen ausgedrückt. Dabei ging es teilweise um sehr konkrete Anliegen wie die Weiterführung bestehender Vergünstigungen und die Streichung von Ökoauflagen und Bürokratie, aber auch um Zukunftsängste und wirtschaftliche Probleme. Zudem setzen der Klimawandel und die anderen Krisen unserer Zeit auch den Agrarsektor unter Druck. Schon im Green Deal wurde festgehalten, dass die Zukunft der Landwirtschaft resilienter, gerechter und nachhaltiger, aber auch wettbewerbsfähiger sein muss. In der letzten Legislaturperiode ist es jedoch nur in begrenztem Umfang gelungen, sich auf konkrete agrarpolitische Maßnahmen zu einigen.
Ein Vorwurf im Rahmen der Bauernproteste war, dass im Zuge der Gestaltung der Agrarpolitik nicht mit den Betroffenen – den Landwirt:innen – gesprochen würde. Daher war es umso wichtiger, dass in diesem Strategieprozess die Landwirtschaft durch ihre Interessenorganisationen Copa, Cogeca, Europäischer Rat der Junglandwirte und European Coordination Via Campesina vertreten war, die wiederum im intensiven Austausch mit ihren Mitgliedern (u.a. der Landwirtschaftskammer Österreich) stehen. Dabei ist aber festzuhalten, dass auch alle bisherigen agrarpolitischen Entscheidungen der EU vom EU-Agrarministerrat beschlossen wurden und wichtige Agrarthemen stets im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) durch die Vertretung der Landwirtschaft der Mitgliedstaaten begleitet werden. Außergewöhnlich an der Erstellung des Berichts war jedoch, dass die 29 eingeladenen Organisationen ein breites Spektrum der Gesellschaft repräsentieren. Damit wird auch zum Ausdruck gebracht, dass Agrarpolitik in hohem Maße Gesellschaftspolitik ist.
Gezielter Mitteleinsatz, Fokus auf Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit?
Im Bericht kristallisieren sich einige Schlüsselthemen heraus, etwa Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Innovation, Resilienz und Abdeckung der gesamten Wertschöpfungskette. Nicht zuletzt wird anstelle einer flächenbasierten Förderung eine gezielte Unterstützung jener Landwirt:innen empfohlen, die sie am dringendsten benötigen. Die Direktzahlungen sollen sich auf kleine und mittelständische Betriebe mit vergleichsweise niedrigem Einkommen konzentrieren. Die entsprechenden Kriterien für die Bedürftigkeit der Betriebe sollen durch eine Expert:innen-Taskforce ermittelt werden. Außerdem sollen die Direktzahlungen nicht mehr an Umweltstandards gebunden werden, wie dies erst in der letzten GAP-Periode von der EU-Kommission zur besseren Rechtfertigung verstärkt wurde.
Empfohlen wird hingegen eine verstärkte Förderung von Nachhaltigkeit, Risikomanagement und Emissionsabbau. Dabei wird festgehalten, dass die Landwirtschaft maßgeschneiderte Ziele für Klima- und Umweltschutz braucht, wobei das Erreichen konkreter Ergebnisse finanziell abgegolten werden soll, nicht die Maßnahmen an sich. Ein neuer Fonds für die Weiterentwicklung des Agrar- und Ernährungssystems (Agrifood Just Transiition Fund – AJTF) soll eingerichtet werden. Zur Unterstützung der Umsetzung wurde vorgeschlagen, den Dialog als European Board of Agri-Food (EBAF) in beratender Funktion fortzuführen, was von der EU-Kommissionspräsidentin positiv aufgenommen wurde.
Gemischte Reaktionen mit positiver Grundstimmung
Die EU-Abgeordneten Cristina Guarda (Grüne) und Dario Nardella (S&D) vom Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (AGRI) begrüßen den Bericht. Auch Stimmen aus dem Konsument:innenschutz sehen die Ergebnisse des Dialogs insgesamt positiv: Der Generaldirektor des Europäischen Verbraucherverbands (BEUC) Agustín Reyna betonte, dass alle Sichtweisen am Verhandlungstisch frei geäußert werden konnten, in einem offenen und guten Geist. Geschätzt wird die Unterstützung einer Wende hin zu einer pflanzenreicheren Ernährung und der Fokus darauf, dass gesunde und nachhaltige Optionen die beste und einfachste Kaufentscheidung sein sollten.
Einige EU-Agrarminister:innen, darunter Norbert Totschnig (Österreich) und Luis Planas (Spanien), zeigten sich aber bereits zu Beginn der Gespräche kritisch und meinten, dass man früher auf die Herausforderungen hätte reagieren müssen. Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands, sieht im Bericht eine „Bestätigung des Kommissionskurses ohne kritischen Rückblick auf vergangene Mandate.“ Olga Kikou vom Europäischen Institut für Tierrecht und Tierpolitik befürchtet eine politische Verzögerungstaktik und mahnt, das Tierwohl in der Debatte nicht zu vernachlässigen. Harald Grethe, Co-Direktor von Agora Agrar, kritisiert die vorgeschlagenen GAP-Direktzahlungen an bedürftige Betriebe; stattdessen solle man Förderungen an Gemeinwohlleistungen koppeln und die Betriebe in den europäischen Emissionshandel einbeziehen.
Was passiert nun mit dem Abschlussbericht?
Der Bericht soll die nächste EU-Kommission bei der Ausarbeitung künftiger Leitlinien unterstützen und bereits in den ersten 100 Tagen die Vision für Landwirtschaft und Ernährung inspirieren, auch als Beitrag zu einem Fahrplan zur Stärkung der Marktmacht von Landwirt:innen. Von der Leyen wertet den Abschlussbericht als Erfolg, setzt jedoch teilweise andere Schwerpunkte. So wurden bei der Pressekonferenz auch Lieferketten, Bürokratieabbau und das Problem des systematischen Verkaufs unter Produktionskosten angesprochen, während im Bericht keine weitere Verschärfung der bereits bestehenden Regelungen zu unlauteren Einkaufspraktiken vorgesehen sind.
Bereits am 13. September 2024 hat die EU-Kommission unter anderem den Anteil an im Voraus geleisteten Direktzahlungen der GAP von 50% auf 70% erhöht. Ob der Abschlussbericht seine volle intendierte Wirkung erreichen kann, muss sich erst zeigen. Die Erfahrungen mit dem Green Deal und der Farm to Fork-Strategie zeigen, dass es zwar oft eine Zustimmung zu wichtigen Zielen gibt. Wenn es aber um konkrete Maßnahmen geht, ist ein Konsens oft nur schwer zu erreichen, gerade bei wirksamen Maßnahmen gegen die Klima- und Biodiversitätskrise. Fest steht jedenfalls: Ohne die Überzeugung der Mehrheit der Landwirt:innen, dass die notwendigen Maßnahmen zur Krisenbewältigung in ihrem eigenen Interesse sind, werden sich ausreichende Reformen nicht umsetzen lassen.
Weiterführende Informationen
EU-Kommission: Strategischer Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU
EU-Kommission: Erklärung der Präsidentin: Zukunft der EU-Landwirtschaft
EU-Kommission: Mission letter to Christoph Hansen, Commissioner-designate for Agriculture and Food (nur Englisch)
A&W-Blog: Einkommensunterschiede in der Landwirtschaft
A&W-Blog: EU-Agrarpolitik - Ausbeutung in der Landwirtschaft
A&W-Blog: Abbau klimaschädlicher Subventionen: Ein Schlüssel zur Budget-Verbesserung?
EU-Kommission: Podcast „Nahrung für Europa“
GLOBAL 2000, AK Wien et al.: 10 Schritte für eine Landwirtschaft der Zukunft
POLITICO: The plan to save European farming (nur Englisch)
Agora Agrar: Nachhaltig und produktiv - Die Zukunft der Landnutzung in einer klimaneutralen EU