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Kann sich Europa eine starke industrielle Basis bewahren oder gehen hunderttausende Arbeitsplätze durch unfaire Praktiken und Dumpingmaßnahmen verloren? Diese Debatte wird in der EU zurzeit intensiv geführt, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem geplanten Marktwirtschaftsstatus für China. Warum schaffen es die USA, ihre Industrie gegen unfairen Wettbewerb zu schützen, und warum versagt die EU? Zu diesen Fragen organisierten die Brüsseler Büros von AK und ÖGB in dieser Woche gemeinsam mit den Arbeiterkammern aus dem Saarland, Bremen und Luxemburg sowie dem DGB und der IG Metall zwei Workshops mit ExpertInnen und Betriebsräten sowie eine hochrangige Abendveranstaltung. Der stellvertretende EGB-Generalsekretär Peter Scherrer eröffnete die Debatte und verwies auf die fundamentale Bedeutung, die eine starke Stahlindustrie mit sicheren Arbeitsplätzen auch für andere Sektoren habe. Bereits im Laufe des Tages hatten zahlreiche GewerkschafterInnen und Betriebsräte in den Diskussionen mit Kommissionsvertretern auf eine nachhaltige Strategie zur Förderung einer starken industriellen Entwicklung gedrängt.

Markus Wieser: „Fairer Wettbewerb ohne Tricks und Hintertürchen“

Der Präsident der niederösterreichischen Arbeiterkammer und ÖGB-Landesvorsitzende Markus Wieser brachte es in seiner Rede auf den Punkt: „Europa muss sich wirksam wehren gegen Dumping, denn wir brauchen einen fairen Wettbewerb und wollen keine Tricks oder Hintertürchen erleben.“ Jetzt sei es aber höchste Zeit, Druck zu machen: „Wir brauchen ein industriepolitisches Projekt, das die Rahmenbedingungen für eine starke Entwicklung der Industrie mit sicheren Arbeitsplätzen und Kollektivverträgen setzt.“ Wieser verwies auf die generelle Wirtschaftsflaute, die zu einem strukturellen Überangebot und zu schwacher Nachfrage geführt habe. So seien auch in Niederösterreich in den letzten Jahren 7,5% der Arbeitsplätze in der Industrie verlorengegangen. Nun ist es höchste Zeit für einen Kurswechsel. Die zahlreich erschienenen Betriebsräte stimmten Markus Wieser zu: „Bei der Stahlindustrie müssen wir beweisen was Europa kann und uns das als Beispiel nehmen, dass es bei den anderen Branchen erst gar nicht so weit kommt.“ Es interessiert die ArbeitnehmerInnen nicht, welche Differenzen es zwischen Mitgliedstaaten, Kommission und EU-Parlament im Einzelnen gebe, wichtig sei allein, dass die EU endlich entschlossen handeln muss, so wie es andere Wirtschaftsräume längst tun. Ansonsten würde das Vertrauen der Menschen in die EU noch weiter sinken.

Isolde Ries: „Wir brauchen faire Bedingungen“

Die erste Vizepräsidentin des saarländischen Landtags und Berichterstatterin im Ausschuss der Regionen, Isolde Ries (SPD), argumentierte in die gleiche Richtung. Im Hinblick auf den möglichen Marktwirtschaftsstatus Chinas, der ein Vorgehen der EU gegen Dumping bei chinesischen Stahlexporten enorm erschweren würde, fordert Ries Vorsichtsmaßnahmen der EU, falls China diesen Marktwirtschaftsstatus einklagen würde. Die EU müsste endlich Zölle anwenden, die auch die volle Wirkung entfalten, denn „Europa macht zu wenig für seine Industrie“ kritisierte sie. Es gebe einen Grund, dass ausgerechnet jetzt das Thema in den Mittelpunkt gerät: „Weil die Stahlarbeiter auf die Barrikaden gegangen sind, weil sie laut geworden sind. Wir müssen weiter laut werden“, so ihr eindringlicher Appell. Die Stahlbranche sei nicht auf Hilfe angewiesen: „Wir brauchen nur faire Bedingungen.“

Knut Giesler: „Grundsatzgefahr für Europa“

„Wenn wir die Entwicklung jetzt beim Stahl verschlafen, dann sind bald die anderen Branchen dran. Dies ist eine Grundsatzgefahr für Europa“, warnte Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen, der auf die Gefahr einer De-Industrialisierung hinwies. Durch den Preisverfall schreibe der Stahlsektor tiefrote Zahlen, es sind 85.000 direkte Jobs in Deutschland davon betroffen, die 8fache Anzahl indirekt. „Die Stahlindustrie hat ihre Hausaufgaben jedenfalls gemacht“ betonte Giesler. Gerade die VOEST zeige, wie sehr sich europäische Stahlunternehmen bereits spezialisiert haben. Im Gegensatz zu den USA gelinge es Europa aber nicht, sich wirksam gegen unfairen Dumpingwettbewerb zu wehren. „Erklären Sie das einem einfachen Arbeiter, dass die EU nicht wie die USA die Grenzen für unfaire Importe zumachen kann.“ Es dürfe nun keine Zusatzbelastungen für die Stahlindustrie im Bereich des Immissionshandels geben, denn bereits jetzt gebe es einen gigantischen Rückstau an Investitionen.

EU-Kommission: „Mitgliedstaaten blockieren“

Grundsätzlich bekennt sich auch die EU-Kommission zu einer starken Stahlindustrie in Europa, denn „ohne Stahlindustrie hätten wir nicht annähernd diese Wertschöpfungskette in Europa, betonte Gwenole Cozigou, Direktor in der EU-Kommission. Die Vorschläge der Kommission würden aber im Rat von den Mitgliedstaaten blockiert. Deshalb könne die so genannte "lesser duty rule", die Regel des geringsten Zolls, nicht ausgesetzt werden. Diese Regel führt häufig dazu, dass Schutzzölle in der EU niedriger sind als in anderen Ländern und das eigentlich festgestellte Dumping nicht ausgleichen. Eine solche Regel zum Nachteil der heimischen Industrie wird aber weder von der WTO vorgeschrieben, noch von einer anderen Industrienation angewendet.

Joachim Schuster: „EU-Kommission hat geschlafen“

Joachim Schuster (S&D), Mitglied im Handelsausschuss des EU-Parlaments, ließ die EU-Kommission aber nicht so schnell aus der Verantwortung. „Die Kommission hat zum Marktwirtschaftsstatus Chinas jahrelang geschlafen, wir mussten die erst drängen etwas zu tun“, kritisierte der EU-Abgeordnete. Die Wettbewerbspolitik werde in der Kommission immer noch höher angesetzt als die Industriepolitik, dies sei falsch. So schreibe die WTO die „lesser duty rule“ gar nicht vor: „Es ist ein selbst gemachtes Leid.“ „Wenn man den Wettbewerb so hochhält, dann verabschiedet man sich von der Industrie in Europa. Und die Menschen werden sich von Europa abwenden.“

Dramatische Folgen durch Dumping-Importe

Diese dramatische Feststellung wurde auch von den zahlreichen Wortmeldungen aus dem Publikum, darunter von vielen Betriebsräten, bestätigt: „Die Stahlindustrie wird nicht das letzte Opfer sein. Es ist jetzt höchste Zeit zum Handeln. Rat, Kommission und EU-Parlament müssen entschlossene Maßnahmen zur industriepolitischen Entwicklung ergreifen statt die automatische Zuerkennung des Marktwirtschaftsstatus für China zu betreiben.“ Möglicherweise wird die Kommission ihren diesbezüglichen Vorschlag noch vor der Sommerpause präsentieren. Gewerkschaften und Arbeiterkammern werden sich aber weiter lautstark in die Debatte einbringen.

USA schaffen, wozu die EU unfähig ist

Wie dramatisch und dringend das Problem ist, zeigen die folgenden Zahlen: Allein 2015 hat China seine Stahlexporte in die EU um mehr als 50 Prozent gesteigert. In den inzwischen durch Handelsschutzmaßnahmen gut abgesicherten nordamerikanischen Markt haben die Exporte dagegen 2015 um mehr als ein Viertel abgenommen. In einem ersten Schritt wurden deshalb von der EU vorläufige Zölle gegen China und Russland verhängt, allerdings nur in einer Höhe zwischen 14 und 16 Prozent. Und dies, obwohl Dumpingspannen für chinesische Importe von fast 60 Prozent nachgewiesen werden konnten. Es ist also höchste Zeit, unfaires Verhalten und Dumpingstrategien wirksam zu unterbinden.

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