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Immer deutlicher wird die Rolle der Europäischen Zentralbank und ihres neuen italienischen Chefs Mario Draghi beim Management der gegenwärtigen Finanzkrise. Austerität um jeden Preis, also Sparen ohne Rücksicht auf Verluste, sei das Gebot der Stunde. Und die Arbeitsmärkte in den Mitgliedstaaten der Euro-Zone müssten flexibilisiert, also der Kündigungsschutz geschleift werden, so der ehemalige Goldman Sachs-Manager in einem Interview mit der US-Zeitung „Wall Street Journal“. Höhepunkt von Draghis Brandinterview: Der Italiener ruft das Ende des europäischen Sozialmodells aus. Gleichzeitig flutet seine Institution die Banken mit billigem Geld in bisher ungeahntem Ausmaß, mit Konsequenzen, die selbst unter ÖkonomInnen höchst umstritten sind.
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat im Dezember des vergangenen Jahres die Europäische Zentralbank (EZB) unter Leitung von Mario Draghi, dem ehemaligen Chef der US-Investmentbank Goldman Sachs, 500 europäischen Banken ein Weihnachtsgeschenk der besonderen Art beschert. Die Banken konnten sich bei der EZB – also auf Kosten der europäischen SteuerzahlerInnen – nach Belieben mit billigem Geld eindecken. 1% Zinsen bei einer Laufzeit von drei Jahren, dazu wurden die Anforderungen an die Sicherheiten, die die Banken bei der EZB für die Kredite hinterlegen mussten, deutlich aufgeweicht. Ein in der Geschichte der EZB einmaliger Vorgang. Kein Wunder, dass die Banken dankbar zugriffen und sich mit 500 Milliarden Euro eindeckten. Bedingungen, was die Banken mit dem Billiggeld machen sollten, wurden von der EZB offiziell nicht gestellt, obwohl die Begründung für den Geldsegen immer lautete, dass das billige Geld den Banken helfen sollte, Kredite an produzierende Unternehmen weiterzureichen, um Wachstum und Beschäftigung anzukurbeln.

Im Interview mit dem Wall Street Journal vom 22. Februar 2012 gibt der EZB-Chef jedoch einen bezeichnenden Einblick, was tatsächlich mit den Milliarden geschehen ist. „Es ist wahrscheinlich, dass die Banken einfach ihre eigenen fälligen Anleihen zurückgekauft haben“, so Draghi. Hinzu kommt, dass es für die Banken wohl kein einfacheres Geschäft gibt, als sich zu einem Zinssatz von 1% bei der EZB Geld auszuleihen und dieses anschließend in Staatspapiere mit einer Verzinsung von 4% und mehr zu investieren. Ein risikoloses Körberlgeld für die Finanzinstitute.

Doch damit nicht genug. Das Weihnachtsgeschenk an die Banken vom Dezember wurde diese Woche noch mal wiederholt. So holten sich die Finanzinstitute auch diese Woche wieder Billiggeld von der EZB im Ausmaß von 530 Milliarden Euro. „Es wäre nicht sinnvoll, Geld abzulehnen, das drei Jahre lang nur ein Prozent kostet", bekennt ein italienischer Topbanker im Interview mit einer Tageszeitung. Skurrilität am Rande: Nicht nur Banken, sondern auch Multis wie Daimler, Peugeot, Volkswagen, Siemens und BMW, die über eine Banklizenz verfügen, können mitmachen.

Der EZB-Geldregen freut die Finanzmärkte, die Börsen befinden sich seit Dezember im Höhenflug. Da passt es auch, dass Draghi im Interview auf die Frage, welche Statistik er am Morgen als erste betrachte, die der Aktienmärkte erwähnt.

Was aus ArbeitnehmerInnensicht eindeutig nicht passt, sind die ideologischen Kommentare des Top-Notenbankers zur Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa. Nicht nur dass die EZB als Teil der sogenannten Troika aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und EZB in den angeschlagenen Mitgliedstaaten der Eurozone bittere Sparpillen zulasten der ArbeitnehmerInnen und der PensionistInnen verteilt, die nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit der WirtschaftswissenschaftlerInnen die Länder noch mehr an den Abgrund drängen. Draghi versteigt sich auch dazu, das Ende des europäischen Sozialmodells auszurufen, eine für einen europäischen Spitzenpolitiker einmalige Entgleisung. Auch seine Rezepte zur Lösung der Krise sind aus ArbeitnehmerInnensicht furchterregend: Sparen um jeden Preis, sogenannte Strukturreformen und Eingriffe in die Arbeitsmärkte. Pure neoliberale Ideologie ohne Rücksicht auf die realen Auswirkungen auf die Menschen in den betroffenen Ländern. So bezeichnet denn auch der ehemalige Chefökonom des IWF und vehemente Bankenkritiker Simon Johnson die Rezepte von Draghi als „Illusion“.

Aus Sicht der Gewerkschaften und der ArbeitnehmerInnenvertreter ist dieser offenkundige ideologische Schwenk in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung einer der zentralen Institutionen der Europäischen Union mehr als besorgniserregend. Erste Zeichen des Widerstands gegen diese Form der Politik formieren sich bereits. So brachten die belgischen GewerkschafterInnen im Rahmen des europäischen Aktionstages gegen die Austeritätspolitik der EU diese Woche vor der belgischen Zentralbank ihren Unmut zum Ausdruck. Und auch konservative Medien warnen vor den Folgen des EZB-Kurses und der billigen Geldgeschenke an die Banken. „Dank des neuen EZB-Angebots werden Banken und Staaten mehr denn je aufeinander angewiesen sein, und der Teufelskreis wird noch einmal verstärkt, so Jörg Rocholl im deutschen Handelsblatt.

Es wäre dringend angebracht, dass sich Draghi und Co. Gedanken über Strukturreformen und eine strikte Regulierung an den Finanzmärkten machen, statt einen wirtschaftspolitischen Kurs fortzusetzen, der die EU bereits an die Grenze des politisch, wirtschaftlich und sozial Verträglichen gebracht hat.

Interview mit EZB-Präsident Mario Draghi im Wall Street Journal (nur auf Englisch)