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Von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt widmet sich die Kommission in einer neuen Mitteilung einem brisanten Thema. Es handelt sich dabei um einen der Hauptauslöser der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise, die sogenannten Derivate. Kein anderes Beispiel eignet sich besser, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zu verdeutlichen: Den Glauben an freie, unregulierte Märkte und an den vermeintlichen Erfindungsreichtum der Finanzindustrie. Ein gefährlicher Irrglaube, für den jetzt die ArbeitnehmerInnen und die BürgerInnen weltweit gerade stehen sollen.
Derivate (lateinisch derivare = ableiten) werden so bezeichnet, da ihr Wert von einem zugrundeliegenden Wert abgeleitet ist. Es gibt eine Reihe von möglichen zugrundeliegenden Werten, wie beispielsweise Aktien, Rohstoffe, Zinsen, oder Kredite. Sehr vereinfacht gesprochen ähnelt das Prinzip jenem bei einer Wette. Eine Vertragspartei setzt beispielsweise auf einen steigenden Aktienkurs (oder ein anderes Ereignis), die andere setzt dagegen. Sinnvoll werden Derivate zum Beispiel von Fluglinien und Industriebetrieben eingesetzt, um sich gegen Preisschwankungen bei wichtigen Rohstoffen abzusichern.

Willkommen in der Welt des Casino-Kapitalismus

Der in der Blütezeit des Neoliberalismus auch politisch geförderte „Erfindungsreichtum“ der Finanzindustrie hat jedoch zu Entwicklungen geführt, die mit realen Bedürfnissen von Unternehmen nichts mehr zu tun haben. Fachleute sprechen von einer Abkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft, im Alltagsgebrauch auch als Casino-Kapitalismus bezeichnet. Ein kurzer Blick auf die Zahlen verdeutlicht, was damit gemeint ist. Nach Berechnungen von Experten ist das Handelsvolumen von Finanzderivaten im Jahr 2006 allein in Europa 84 mal höher gewesen als die gesamte Summe der in der Realwirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen. Die Spekulation hat die reale Produktion weit hinter sich gelassen.

Wetten im ganz großen Stil: EUR 500.000 Milliarden pro Jahr ohne Aufsicht

Es geht dabei um Summen, die die Vorstellungskraft überfordern. Betrug das Volumen der gehandelten Derivate 1998 noch rund EUR 71 Billionen, so explodierte dieser Wert innerhalb von 10 Jahren auf unfassbare EUR 568 Billionen. Das entspricht in etwa dem 2000fachen der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs (Bruttoinlandsprodukt Österreichs 2008: EUR 285 Milliarden). Hinzu kommt ein weiterer Trend, der maßgeblich zum Entstehen der Finanzkrise beigetragen hat: Der Handel mit Derivaten spielt sich weitgehend in Hinterzimmern ab, jenseits jeglicher Kontrolle durch staatliche Aufsichtsbehörden. Vom EUR 568 Billionen Handelsvolumen entfielen rund EUR 500 Billionen auf Derivat-Transaktionen, die nicht über öffentliche Börsen gehandelt wurden und die im Fachjargon als „Over-the-Counter“ (OTC) bezeichnet werden. Wie in längst vergangenen Zeiten machen hier die Parteien „über den Ladentisch hinweg“ die Konditionen unter sich aus, und niemand – auch keine Aufsichtsbehörde – hat Einblick in das Geschehen. In der Realität werden solche Deals per Telefon oder elektronisch über „private“ Händlernetze abgeschlossen, damit zusammenhängende Aufzeichnungen sind selbstverständlich auch Privatsache.

Kreditderivate führten zum Beinahe-Kollaps der Finanzwelt
Die Analyse der Kommission in ihrer Mitteilung und in einem begleitenden Arbeitspapier ist durchaus lesenswert. Die Kommission kommt zum Schluss, dass der Einsatz von Derivaten ohne realen Anlass als pure Spekulation zu werten ist und die Krisenanfälligkeit des gesamten Finanz- und Wirtschaftssystems erhöht. Von größter Bedeutung ist die Rolle der Kreditderivate (Credit Default Swaps CDS), die nicht nur die US-Giganten Bear Sterns, Lehman Brothers und AIG, sondern mit ihnen auch gleich die gesamte Weltwirtschaft ins Wanken brachten. Es handelt sich hier um Wetten, ob ein bestimmtes Unternehmen in der Lage sein wird, seine Schulden zurückzuzahlen. Ausgelöst wurde der Hype um Kreditausfallsswaps von Hedge Fonds und Investmentbanken, für die klassische Unternehmensanleihen zu langweilig und zu wenig profitabel waren.

Niemand kennt das Risiko, der Staat wird schon helfen: ArbeitnehmerInnen und BürgerInnen zahlen die Zeche
“Keine Wirtschaft kann gedeihen, wenn niemand bereit ist, Risiko zu übernehmen“, stellt die Kommission in ihrer Mitteilung fest. Das Problem bei den Kreditderivaten war jedoch, dass die Investoren nicht ausreichend Informationen über das zugrundeliegende Risiko (wird das Unternehmen seine Kredite bezahlen können?) hatten und sich blind auf das Urteil von Ratingagenturen verlassen haben, die leider in vielen Fällen falsch lagen. Und da diese Geschäfte weitgehend ohne behördliche Aufsicht stattfanden, hatte auch niemand Einblick in die Dimension und in die gesamtwirtschaftlichen Risiken. Als das gesamte Kartenhaus einbrach, musste das Risiko dann von der öffentlichen Hand übernommen werden und wird heute an die ArbeitnehmerInnen und die SteuerzahlerInnen weitergereicht.

Kommission: Viel Freiwilligkeit und gutes Zureden

Man sollte meinen, dass diese Fehlentwicklungen Anlass genug für die Kommission und die Mitgliedstaaten sind, entschieden einzugreifen. Tatsächlich scheint die Kommission wieder einmal auf Freiwilligkeit zu setzen: In ihrer Mitteilung empfiehlt sie, Derivate stärker zu standardisieren und über zentrale „Clearingstellen“ zu handeln. Sie hat mit der mächtigen Finanzindustrie eine Frist bis zum 31. Juli 2009 ausgehandelt, bis zu der Kreditausfallsversicherungen über eine zentrale Clearingstelle abgewickelt werden müssen. Sollte dies nicht zufriedenstellend geschehen, behält sich die Kommission weitere gesetzliche Schritte vor. Für Zinsswaps, Währungs- und Rohstoffkontrakte – Instrumente, die nach Ansicht von Experten maßgeblich zu den großen Preisschwankungen bei Öl und Lebensmitteln beitragen – gibt es nur „mittelfristige“ Überlegungen.

EU fällt USA bei Regulierung in den Rücken: Regeln light aus Brüssel
Besonders bedenklich ist dieser neuerliche Kniefall der Kommission vor der Lobby der Finanzindustrie deshalb, weil jenseits des Atlantiks die USA unter der Obama-Administration ein deutlich schärferes Vorgehen gegen Derivate umsetzen wollen. So wollen die USA den Derivate-Handel strikt regulieren, weshalb die US-Regierung erst kürzlich entschied, den besonders unübersichtlichen Handel mit Kreditderivaten auf öffentlich einsehbare Börsenplattformen zu zwingen. Da der Finanzsektor in diesem Fall empfindliche Umsatzeinbußen durch eine geringere Nachfrage nach Risiko-Papieren befürchtet, läuft sie mit ihrer Lobby gegen diesen Plan Sturm.

Anders die Europäische Kommission. Sie möchte das entschiedenere Vorgehen der USA dazu nutzen, um Geschäfte für Europa zu lukrieren und fällt damit den Amerikanern in den Rücken. Der größte Anteil am weltweiten Derivate-Handel entfällt auf London und New York, ein lockereres Regime in Europa könnte Geschäfte von jenseits des Atlantiks anziehen. Folgerichtig zeigten sich auch die Lobbyingverbände International Swaps and Derivatives Association und European Banking Federation erleichtert und sind mit den Vorschlägen der Europäischen Kommission sehr zufrieden.

Zur Mitteilung der Kommission läuft derzeit eine öffentliche Konsultation bis 31. August. Für den 25. September ist eine öffentliche Anhörung geplant. Die Ergebnisse sollen noch vor Jahresende bekannt gegeben werden, dann sollen „angemessene“ Initiativen vorgestellt und „wenn gerechtfertigt“ auch Gesetzesvorschläge gemacht werden.

Kommissionsmitteilung zu Derivaten (derzeit nur auf Englisch)

Arbeitspapier der Kommission zu Derivaten (nur in Englisch)

Konsultationsdokument der Kommission zu Derivaten (nur in Englisch)