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Neue Regeln zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordination und Überwachung wurden diese Woche nicht nur von den Staats- und Regierungschefs diskutiert, sondern auch im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments. Mit dem Paket aus sechs Gesetzesvorschlägen werden der Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, Verfahren bei übermäßigem Defizit, die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte sowie Maßnahmen zur Durchsetzung angestrebt. Politischer Streit ist vorprogrammiert.
Wie können Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten innerhalb der Eurozone und der EU korrigiert werden? Reicht es, sich auf die Leistungsbilanzdefizite zu konzentrieren oder muss die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage, inklusive Lohnentwicklungen auch in Überschussländern berücksichtigt werden? Wie groß dürfen die Haushaltsdefizite der Mitgliedsstaaten sein und was passiert, wenn diese Grenzen überschritten werden? Dies sind die zentralen Fragen, über die die Abgeordneten im Wirtschafts- und Währungsausschuss diskutierten. Die Debatte im Europäischen Parlament ist deshalb besonders wichtig, da das Parlament mit den Mitgliedstaaten zusammen entscheiden muss. Da sich die Mitgliedstaaten aber bereits auf eine aus ArbeitnehmerInnensicht bedenkliche einseitige Sparpolitik unter dem Diktat der „Märkte“ bei weitgehender Ausklammerung der Beschäftigungs- und Soziallage geeinigt haben, ruhen jetzt die letzten Hoffnungen auf vernünftige wirtschaftspolitische Verbesserungen auf dem Europäischen Parlament.

Fokus auf Staatsverschuldung

Eine große Diskussion lösten die Grenzen der öffentlichen Verschuldung und Neuverschuldung aus. Die Geschwindigkeit, mit der Staaten, die diese Grenzen überschreiten, ihr Haushaltssaldo verbessern müssen, wurde ebenfalls debattiert. Von der Kommission wurde eine öffentliche Defizitquote von 3% gefordert, mit der auch die Europäische Volkspartei einverstanden zu sein scheint. Von den meisten Abgeordneten der S&D Fraktion wird gefordert, dass die 3% inflationsbereinigt werden und öffentliche Investitionen nicht miteingerechnet werden. Bullmann, sozialdemokratischer Schattenberichterstatter, fordert, dass Staaten einen Zielwert für öffentliche Investitionen erreichen sollten. Wortmann-Kool, Berichterstatterin der Europäischen Volkspartei, findet, dass so ein Ziel das Vertrauen der Finanzmärkte gefährden könne.

Ein weiterer Streitpunkt ist, wie lange es Abweichungen von der Zieldefizitquote geben darf und wie der Rhythmus des Schuldenabbaus aussehen muss. Die Liberalen fordern die schnellste und stärkste Reduktion, während der sozialdemokratische Berichterstatter Scicluna eine Möglichkeit von Ausnahmen einfordert, wenn das Wirtschaftswachstum bei weniger als 1% liegt, um kontrazyklische Maßnahmen zu ermöglichen. Besonders die Liberalen wehren sich gegen die Ausnahmeregelungen, sie fordern, dass Länder die Grenzen auch in Krisenzeiten nicht überschreiten sollten und einen Automatismus zur Einleitung eines Verfahrens bei Überschreitung. Beim Modus der Entscheidungsfällung bei einem zu hohen Schuldenstand, d.h. über 60% des BIP, waren sich die Fraktionen uneinig. Auch bei der geforderten Jahresmenge des Abbaus des übermäßigen Defizits klaffen die Forderungen von 0.2 bis 1% auseinander. Bei den Regelungen, wie stark Länder vom Ziel des Haushaltssaldos abweichen dürfen, forderten die Liberalen viel rigidere Sätze als die SozialdemokratInnen.

Wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten

Zur Ermittlung makroökonomischer Ungleichgewichte soll es ein Scoreboard aus verschiedenen Variablen geben, das als Orientierung dienen soll. Ferreira, die sozialdemokratische Berichterstatterin, fordert bezüglich der makroökonomischen Ungleichgewichte, dass nicht nur Variablen wie der Schuldenstand oder das Leistungsbilanzdefizit miteinbezogen werden, wie es einige liberale Abgeordnete eingebracht hatten. Es sollen auch dahinterstehende makroökonomische und soziale Faktoren, wie die Einkommensverteilung, die Entwicklung der Löhne oder andere makroökonomische Variablen miteinbezogen werden. Es dürfen nicht nur Defizit- sondern auch Überschussländer adressiert werden. Auch darüber, wie genau das Scoreboard überhaupt definiert werden soll, gibt es noch keine Einigkeit.

Ein ‚intelligenter‘ Pakt
Zentrale Forderung der SozialdemokratInnen ist, dass die konjunkturelle Entwicklung miteinbezogen wird und antizyklische Fiskalpolitik eine wichtigere Rolle spielen soll. Strenge automatische Sanktionen, wie von den Liberalen vorgeschlagen, oder die Miteinbeziehung von öffentlichen Investitionen in den Schuldenstand, würden eine kontrazyklische Wirtschaftspolitik verunmöglichen, so Hoang Ngoc. Es soll nicht nur die Ausgabenseite sondern auch die Einnahmenseite (Unternehmens- oder Finanzsteuern) betrachtet werden. Außerdem fordern SozialdemokratInnen, dass die nationalen Regierungen sowie das Parlament eine wichtigere Rolle spielen sollen und dass Pensionsreformen nicht in die Gesetzesvorlagen miteinbezogen werden. Bullmann gab zu bedenken, dass Europa nicht wegen der angewachsenen Staatschulden in der Krise sei, sondern wegen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten und zu wenig regulierten Finanzmärkten. Daher werde es nicht reichen, sich rein auf die Staatschulden und Leistungsbilanzdefizite zu konzentrieren, um einer neuen Krise entgegenwirken. Es brauche auch Anreize für Investitionen, nicht nur einen Stabilitäts- und Wachstumspakt in alter Form, so Ferreira.
Alternative wirtschaftspolitische Wege zeigt auch eine neue Publikation des Europäischen Gewerkschaftsbundes und des Europäischen Gewerkschaftsinstitutes auf, die am 23.3.2011 in Brüssel präsentiert wurde. In „Benchmarking Working Europe 2011“ werden die aktuellen wirtschaftspolitischen Strategien der EU (z.B. EU 2020), sowie die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa kritisch analysiert und Alternativen dazu aufgezeigt. Auch dem von der AK entwickelten Abhängigkeitsquotenrechner (AQR) wird ein Kapitel gewidmet. Der AQR zeigt, dass in der aktuell von der Kommission angestoßenen Debatte über die demografische Entwicklung und deren Auswirkungen auf die Systeme der sozialen Sicherheit und ihre Finanzier-barkeit oftmals keine klare Unterscheidung zwischen demografischen Abhängigkeitsquoten (Relation Älterer / Jüngerer) und ökonomischen Abhängigkeitsquoten (Relation LeistungsbezieherInnen / Aktive) getroffen wird. Die ganz zentrale Bedeutung der Arbeitsmarktentwicklung wird damit weitgehend ausgeblendet.

Weiterführende Links:

Berichte und Änderungsanträge im ECON Ausschuss (Agenda Nummer 11-16):


Benchmarking Working Europe2011 (nur Englisch)