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Diese Woche diskutierten EU-Abgeordnete mit WissenschafterInnen und InteressenvertreterInnen über die Bewertung bisheriger Liberalisierungsmaßnahmen bei öffentlichen Dienstleistungen. Wissenschafter forderten die Erfahrungen der letzten 20 Jahre aus der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen endlich einer gründlichen Bewertung zu unterziehen. Bisherige Untersuchungen können die unterschiedlichen Aspekte der öffentlichen Dienstleistungen nicht abdecken, äußern sich die Forscher kritisch.
Prof. David Hall von der Greenwich-Universität hat das Gefühl, dass wenig Interesse besteht, die Auswirkungen der bisher unternommenen Liberalisierungsschritte bei den öffentlichen Dienstleistungen zu untersuchen. Die Mitgliedstaaten seien bei der Liberalisierung unterschiedlich weit vorangeschritten, eine Bewertung sei damit ein schwieriges Unterfangen.

Prof. Hall: Bei öffentlichen Dienstleistungen über wirtschaftliche Aspekte hinaus denken

Heftige Kritik übt Hall an der Grundhaltung, zu sagen, es gebe keine Alternative zur Liberalisierung. Es sei vielmehr notwendig über die wirtschaftlichen Aspekte hinaus zu denken. Entsprechend müssten die Kriterien bei einer Evaluierung festgelegt werden. Schließlich weist Hall auch darauf hin, dass gerade „reiche Länder“ im Verhältnis zu ihrem Bruttoinlandsprodukt wesentlich mehr in öffentliche Dienstleistungen investieren.

Prof. Thomas Lenk von der Universität in Leipzig befasst sich bereits seit Jahren mit öffentlichen Dienstleistungen. Viele Studien, die sich mit Liberalisierung und Privatisierung dieser Dienstleistungen in den neuen Mitgliedstaaten befassen, konzentrieren sich nur auf den Preis und die Qualität. Studien, die sich mit den alten Mitgliedstaaten auseinandersetzen, seien umfassender, so Lenk. Man könne feststellen, dass sich die Märkte verändert haben, es gibt aber nicht unbedingt mehr Wettbewerb. Man müsse sich auch fragen, was man mit der Liberalisierung überhaupt erreichen will, bevor man eine Untersuchung macht.

ETF-Generalsekretär Chagas: Junge Leute sind nicht bereit zu diesen Bedingungen im Transportwesen zu arbeiten

Der Generalsekretär der Europäischen Transportarbeiterföderation Eduardo Chagas wies darauf hin, dass der Verkehrssektor einer der größten Arbeitgeber sei. Rund 9,2 Millionen Personen seien dort beschäftigt. Er erwartet, dass die Beschäftigung in diesem Bereich stark wachsen werde. Heftige Kritik übte Chagas aber an den Arbeitsbedingungen: Die Liberalisierung im Transportwesen gehe eindeutig auf Kosten der ArbeitnehmerInnen – es gebe viele Scheinselbständige, die Verträge werden schlechter, die Beschäftigten müssten ihren Wohnort wechseln, Sozialdumping sei leider an der Tagesordnung. Im Straßen- sowie im Schiffsverkehr seien ArbeitgeberInnen teilweise skrupellos. In der Luftfahrt verschlechtern sich die Bedingungen in letzter Zeit ebenfalls. Durch die schlechten Arbeitsbedingungen seien viele junge Menschen nicht mehr bereit im Transportsektor zu arbeiten, gab Chagas schließlich auch noch zu bedenken.

Arbeitgebervertreter jubeln über Steigerung von Effizienz und Passagierzahlen

Ludger Sippel und Jan Moellmann von der ArbeitgeberInnenseite hoben die Vorteile der Liberalisierung hervor. So seien bei der mitteldeutschen Regiobahn erheblich mehr Tickets verkauft worden, weil das Angebot verbessert wurde. Moellmann informierte, dass in Deutschland in den letzten 10 Jahren um 43 % mehr Passagiere im Schienenverkehr zu verzeichnen seien, ähnliches gelte für die Niederlande, Schweden und Portugal, wo die Liberalisierung schon relativ weit vorangeschritten sei. Die Effizienz sei gestiegen, man könne auf Veränderungen rascher reagieren als früher. Eine differenzierte Meinung hatte jedoch der Brüssel-Leiter des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmer: Es sei eine Rekommunalisierung öffentlicher Dienste zu beobachten, weil die Liberalisierung nicht die gewünschten Effekte gehabt habe. Viele Ausschreibungen seien darüber hinaus nicht erfolgreich gewesen, weil es keine Interessenten gegeben habe. Er spricht sich für praktische Lösungen aus anstatt ideologische Forderungen zu verfolgen.

Cornelia Berger, UNI Europa: Negative soziale Folgewirkungen durch Liberalisierung des Postsektors

Schließlich wurde auch die Liberalisierung des Postsektors diskutiert. Nicolas Gelapides von der Gewerkschaft SUD PTT wies auf den massiven Stellenabbau in den letzten Jahren hin. In Deutschland seien binnen 5 Jahren 43.000 Beschäftigte abgebaut worden, in Großbritannien seien es binnen 10 Jahren 77.000 gewesen. Es seien nun nur noch wenige Personen Vollzeit beschäftigt, der überwiegende Teil arbeite nur noch Teilzeit. Cornelia Berger von UNI Europa wies insbesondere auf die negativen sozialen Folgewirkungen der Liberalisierung hin. Weniger Beschäftigte heißt gleichzeitig auch mehr Stress für die verbliebenen Arbeitskräfte. Gleichzeitig würden auch die Löhne sinken, kritisierte Berger. Kommissionsstudien würden diese Probleme jedoch ignorieren und konzentrieren sich ausschließlich auf die wirtschaftlichen Effekte. Am deutlichsten sehe man die negativen Auswirkungen für die Beschäftigten in Deutschland, den Niederlanden und Schweden, insgesamt sei es aber noch zu früh die sozialen Folgen in ihrer Gesamtheit einzuschätzen, da die Liberalisierung des Postsektors erst seit wenigen Monaten abgeschlossen sei.

Die Europäische Kommission hat bereits seit längerem angekündigt, die Beihilfevorschriften für öffentliche Dienstleistungen zu überarbeiten. Seit kurzem stehen nun Textentwürfe zu den Plänen der Kommission zur Verfügung, die auf der Internetseite http://ec.europa.eu/competition/state_aid/legislation/sgei.html abrufbar sind. Ein Legislativvorschlag ist für 2012 vorgesehen.