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Die EU-Kommission veröffentlichte am Dienstag ihre „wirtschaftspolitischen Empfehlungen“ an die Mitgliedsstaaten im Rahmen des ersten sogenannten „Europäischen Semesters“. Die Mitgliedsstaaten sollen diese “Empfehlungen“, nach Verabschiedung durch die Staats- und Regierungschefs, in den nächsten 12-18 Monaten umsetzen.
Mehr als Empfehlungen?
Das sogenannte „Europäische Semester“ ist die erste Etappe einer geplanten grundlegenden Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik in Europa. Die Mitgliedsstaaten sollen ihre Budgetvorhaben künftig zuerst der Kommission zur Begutachtung schicken. Diese bewertet die Vorhaben der Länder und gibt „Empfehlungen“ ab. Derzeit hat die Kommission allerdings noch keine Werkzeuge, um Mitgliedsländer zu bestrafen, die sich nicht an ihre Empfehlungen halten. Das soll sich aber bald ändern. Das Europäische Parlament verhandelt gerade mit der Kommission und den Mitgliedsstaaten über ein weitreichendes Gesetzespaket, das in Zukunft saftige Strafen ermöglichen soll.

Ideologie pur
AK und Gewerkschaften kritisieren die ideologische Ausrichtung der wirtschafts- und sozialpolitischen Empfehlungen der Kommission scharf. Sie werden von technokratischen ExpertInnen im Beamtenapparat der Europäischen Kommission formuliert und richten sich überwiegend nach dem neoliberalen Lehrbuch. Eine demokratische Debatte findet nicht statt, abweichende Einschätzungen werden nicht berücksichtigt. Durch die breite Veröffentlichung der Erkenntnisse der Kommission in den Medien wird politischer Handlungsdruck erzeugt, der Mitgliedstaaten und SozialpartnerInnen vor vollendete Tatsachen stellt. Die wahren Ursachen der Finanzkrise und der Budgetprobleme vieler Mitgliedsländer – von 27 EU-Mitgliedern können 24 die Maastrichtkriterien nicht einhalten – werden nicht angesprochen: Unzureichende Regulierung der Finanzmärkte, Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten, einseitige Politikausrichtung zugunsten transnationaler Unternehmen. Die Politik der EU nach der Krise soll genau so weitergehen wie vor der Krise. Für die Beschäftigten ist Austerität angesagt.

Rezepte aus der Mottenkiste: Aus der Krise nichts gelernt
So kommen die „Empfehlungen“ der Kommission auch nicht überraschend, wenngleich ihre Tragweite in dieser Form ihresgleichen sucht. Die Kommission empfiehlt beispielsweise Spanien, seine Regionen enger an die Leine zu nehmen, auch Deutschland soll seine nationale Schuldenbremse den deutschen Bundesländern überstülpen. Die SpanierInnen sollen außerdem die Mehrwertsteuer erhöhen, ebenso wie Abgaben auf Elektrizität, Gas und Benzin, um die Sozialbeiträge der Unternehmen zu senken. Belgien soll seine Arbeitslosenunterstützung kürzen. In Frankreich soll der Arbeitsschutz gelockert werden, Beschäftigte mit regulären Arbeitsverträgen seien zu sehr geschützt. Auch der französische Mindestlohn sei zu hoch und die Sozialabgaben „bestraften“ die Unternehmen. Natürlich kommen auch die öffentlichen Dienste in Fortsetzung jahrelanger Kommissionsideologie nicht ungeschoren davon: So solle beispielsweise Deutschland seinen Dienstleistungssektor liberalisieren und mehr Wettbewerb beim Schienenverkehr schaffen.

Österreich: Staatsschulden schneller abbauen
Auch für Österreich hat die Kommission einige „Schmankerln“ parat. So sollen die Staatsschulden doppelt so schnell verringert werden als von der Regierung beschlossen. Auch das Pensionsantrittsalter soll angehoben werden, unter anderem durch die Verringerung von Frühpensionierungen (Hacklerregelung) und einer Erhöhung des Pensionsantrittsalters für Frauen. Auch hohe Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für niedrigere und mittlere Einkommen sind der Kommission ein Dorn im Auge. Wer allerdings nach Kritik an der im europäischen Vergleich extrem niedrigen Besteuerung von Vermögen sucht, wird bei der Kommission nicht fündig. Gemäß der Kommissionslogik sollen auch Dienstleistungen, wie zum Beispiel Transport oder Telekommunikation, in Österreich weiter liberalisiert werden.

Auf dem Weg in die Konfrontation
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Empfehlungen der Kommission sind das erste Kapitel einer neuen Ära, einer „stillen Konterrevolution“, wie sie von der französischen Tageszeitung „Libération“ beschrieben wurde. Sie verkörpern in Reinform die Kapitulation Europas vor der sogenannten „Logik der Finanzmärkte“. Noch handelt es sich um mehr oder weniger unverbindliche Empfehlungen. Doch bald sollen die „Empfehlungen“ um die entsprechenden Strafmechanismen ergänzt werden. Dem Ansehen des historisch bedeutsamen Projekts Europa bei den ArbeitnehmerInnen droht ein Schaden, der in seinen Ausmaßen noch nicht abgeschätzt werden kann.

Hintergrund
Die Empfehlungen der Kommission sind Teil der wirtschaftspolitischen Koordinierung der EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen des Europäischen Semesters. Im April und Mai mussten die Mitgliedsstaaten Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und nationale Reformprogramme vorlegen, zu denen die Kommission nun die länderspezifischen Empfehlungen abgab. Die Empfehlungen werden nun von den SozialministerInnen, den FinanzministerInnen und den Staats- und Regierungschefs diskutiert und offiziell verabschiedet. Sie sollen in den nächsten 12-18 Monaten umgesetzt werden. Sanktionsmöglichkeiten zur Umsetzung gibt es derzeit noch keine, sie sollen aber mit dem Economic-Governance-Paket bald eingeführt werden.



Aufruf: Ein Richtungswechsel für Europa - Europaabgeordnete warnen vor Verschärfung des Stabilitätspakts - Parteiübergreifender Appell für einen sozialen Richtungswechsel in Europa
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Weitere Dokumente:

Country Specific Recommendations in the context of the European Semester – Frequently Asked Questions

Pressemitteilung: Wachstum und Arbeitsplätze: Länderspezifische Empfehlungen der Kommission für 2011

Mitteilung der Kommission – Abschluss des ersten Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik: Orientierungen für die Politik der Mitgliedsstaaten 2011-12


Empfehlungen für die 27 Mitgliedsstaaten
(nur Englisch)