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Die Kommission hat zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der US-Großinvestmentbank Lehman diese Woche in Brüssel zwei Kernstücke ihrer Vorstellungen zur Regulierung der Finanzmärkte präsentiert. Außerbörsliche Derivate, Leerverkäufe und Kreditausfallsversicherungen sollen endlich an die kürzere Leine genommen werden. Von Verboten hält die Kommission nichts: „Spekulation verbieten zu wollen ist so, als ob wir den Regen verbieten wollten“, so der zuständige französische Binnenmarktkommissar Michel Barnier auf der Pressekonferenz.

Big Bang führte zur Deregulierung der Finanzmärkte und zur Finanzkrise

Die Forderung nach einer drastischen Eindämmung der Spekulation an den internationalen Finanzmärkten zählt weltweit seit Jahren zu den Grundforderungen von ArbeitnehmervertreterInnen, so auch von AK und ÖGB. Seit der „Befreiung“ der Finanzmärkte von staatlichen Vorschriften in den 1970er Jahren („Big Bang“) hat sich an den Börsen eine beängstigende Spekulationsblase gebildet, die mit realwirtschaftlichen Entwicklungen nichts mehr zu tun hat. Dass diese Blase eines Tages in großem Stil platzen würde, war zu befürchten. Und sie ist geplatzt. ArbeitnehmerInnen und SteuerzahlerInnen mussten die Rechnung bezahlen, die die SpekulantInnen hinterlassen haben.

2 Jahre nach Lehman legt die Kommission nun endlich einen Vorschlag vor

Umso erstaunlicher ist es, dass die Europäische Kommission ganze zwei Jahre gebraucht hat, um endlich Vorschläge vorzulegen, wie man die wildesten Spekulationsauswüchse in den Griff bekommen kann. Es geht darum, zum ersten mal Regeln für Finanzinstrumente einzuführen, die seltsame Namen haben, auf den ersten Blick für Nichteingeweihte schwer zu verstehen sind, aber Ausmaße angenommen haben, die die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund reißen können: Derivate, Leerverkäufe und Kreditausfallsversicherungen.

Wildwest-Duell um 625 Billionen US$

Bei Derivaten handelt es sich dem Prinzip nach um Wetten: Steigt der Kurs einer Aktie, einer Währung, der Zinsen, etc. oder fällt er? Werden Derivate an Börsen gehandelt, ist es für die staatlichen Aufsichtsbehörden noch halbwegs möglich, sich einen Überblick zu verschaffen, was gerade passiert. Das Problem ist, dass nur rund 20% aller weltweit gehandelten Derivate an Börsen gehandelt werden. Die restlichen 80% werden bilateral zwischen den „Investoren“ „über die Theke (im Englischen „over-the-counter“, abgekürzt OTC)“  ausgehandelt, und keine Aufsichtsbehörde der Welt hat irgendeinen Einblick, was da ausgehandelt wird und welche Risiken für das Finanzsystem insgesamt eingegangen werden. Beängstigend ist das jährliche Handelsvolumen dieser OTC-Derivate: 625 Billionen US$ schätzt die Kommission, mehr als das Elffache der Wirtschaftsleistung der gesamten Welt. Ein Bezug zur produzierenden Wirtschaft kann hier von niemandem mehr erkannt werden. Dazu der französische Kommissar Barnier: "Auf Finanzmärkten darf es nicht zugehen wie im Wilden Westen“.

Derivatdschungel soll ans Licht gezerrt werden

Die Kommission will jetzt endlich Licht in diesen Graubereich bringen. Sie hat dazu gestern einen Verordnungsvorschlag vorgelegt, der jetzt zwischen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament verhandelt werden muss. Die Grundidee ist, dass zwischen die beiden Vertragsparteien eines Derivats eine neutrale Institution geschoben wird, die für die Abwicklung des Geschäfts sorgt (eine sogenannte „Zentrale Gegenpartei“). Außerdem  sollen alle Geschäfte mit OTC-Derivaten in Zukunft an zentrale Datensammelstellen (Transaktionsregister) gemeldet werden, zu denen die Regulierungsbehörden Zugang haben, und die auch veröffentlicht werden sollen.

Komplexe Derivate sollen teurer werden – aber wann und um wie viel?

So weit so gut. Problematischer wird es, wenn es um die Frage geht, welche Derivate genau für ein solches zentrales Clearing in Frage kommen Da behauptet die Finanzlobby nämlich, dass es viele Derivatverträge gibt, die zu maßgeschneidert und kompliziert für ein solches Clearing sind. Die ab 1. Jänner 2011 aktive neue Europäische Aufsichtsbehörde für Wertpapiere ESMA soll anhand von Kriterien überprüfen, für welche Derivate diese Behauptung zutrifft oder nicht. Sind die Derivate tatsächlich zu komplex, müssen die Vertragsparteien mehr Eigenmittel hinterlegen, um das höhere Risiko auszugleichen. Der Haken dabei: Wie viel mehr Eigenkapital kann jetzt noch niemand sagen, da das erst im Rahmen der Verhandlungen über die neuen Eigenkapitalregeln für Banken verhandelt werden muss.

Industrie freut sich über großzügige Ausnahmen

Ein weiterer Pferdefuß sind die großzügigen Ausnahmen für produzierende Industrieunternehmen, die im Vorfeld der Veröffentlichung mit einer massiven Lobbykampagne die Kommission unter Druck gesetzt haben. Ihr Angstargument: Industrieunternehmen bräuchten Derivate, um sich gegen Schwankungen an den Märkten für ihre Rohstoffe etc. abzusichern. Sollten die neuen Regeln der Kommission jetzt auch für sie gelten, würde das sehr viel Kapital binden und zu „Schäden für die Realwirtschaft“ führen.  Der Energieversorger EON rechnet offiziell mit Kosten in Höhe von EUR 10 Mrd, Siemens mit EUR 4 Mrd, MAN mit 2 Mrd, usw.

Es ist zweifelsfrei richtig, dass viele Industrieunternehmen sich gegen Preisschwankungen absichern müssen. Tatsache ist aber auch, dass in einigen Großkonzernen die Finanzabteilungen mittlerweile zu Mini-Investmentbanken herangewachsen sind, die Derivate gerne auch zur Spekulation und zur Aufbesserung des Finanzergebnisses nutzen. Umso unverständlicher ist es, dass die Kommission hier so großzügig zur Industrie sein will: Sie schlägt nämlich vor, dass der Handel mit Derivaten über eine Freigrenze hinaus, die das Kerngeschäft des Unternehmens betrifft, erst ab Überschreiten von zwei weiteren Schwellen gemeldet und zentral gecleart werden muss. Und die Höhe dieser Schwellen soll erst in Zukunft von der Kommission festgelegt werden.

Spekulation mit Staatspapieren öffnet Augen der Politik für Leerverkäufe

Europäischer Handlungsbedarf besteht auch bei Leerverkäufen und Kreditausfallsversicherungen. Lange Zeit von den Regierenden vernachlässigt, hat die frenetische Spekulation mit europäischen Staatspapieren (Griechenlandkrise) den PolitikerInnen bitter vor Augen geführt, dass die Finanzmärkte den Anspruch haben, die Politik zu diktieren. Einige Mitgliedstaaten, so Deutschland und Österreich, haben als Lehre aus den Vorfällen die Bremse gezogen und Leerverkäufe mit Staatspapieren und Bankwerten ausgesetzt. Die Europäische Kommission erkennt jetzt die Gefahr, dass ein Flickenteppich unterschiedlicher Vorschriften in den Mitgliedstaaten entsteht, der zu Wettbewerbsverzerrungen führt, und schlägt einheitliche europäische Vorschriften vor.

Barroso spricht von einem Verbot, Barnier sagt kein Verbot

Besonders beachtenswert sind hier die sogenannten ungedeckten Leerverkäufe. Ein „Investor“ wettet auf fallende Kurse (z.B. von Staatspapieren), hat aber die Papiere, auf die er wettet, gar nicht in seiner Verfügungsgewalt. Eine Technik, die gerne von Hedgefonds im Zuge von Währungsspekulationen angewendet wird, und die leicht dazu führen kann, in Stresssituationen Krisen noch zu verschärfen. Bei diesen rein spekulativen Praktiken hatten viele gehofft, dass die Kommission sich der deutschen Vorgehensweise anschließen und solche „nackten“ Leerverkäufe in der EU verbieten würde. Und obwohl der Kommissionspräsident in öffentlichen Reden davon spricht, dass die Kommission genau das getan hat, ist dem nicht so, wie auch Binnenmarktkommissar Barnier zugibt. Der Verordnungsvorschlag sieht nur eine komplizierte Regelung vor, nachdem eine Vereinbarung zwischen dem Spekulanten und einer Drittpartei vorhanden sein muss, in der die Drittpartei zusagt, dass die zugrundeliegenden Papiere, auf deren Fall gewettet wird, "lokalisiert" ist und zum Ausleihen "reserviert" sind. Ein Verbot sieht anders aus. Aber schließlich kann man ja auch den Regen nicht verbieten.

Weiterführende Informationen:

Verordnungsvorschlag der Kommission zu Derivaten (nur Englisch)

Verordnungsvorschlag der Kommission zu Leerverkäufen und Kreditausfallsversicherungen (nur Englisch)

Sehr empfehlenswertes Hintergrundpapier der AK zu Derivaten