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Mit dem 4. Eisenbahnpaket hat die Europäische Kommission nun die nächste Runde in der Liberalisierung des Schienenverkehrs eingeläutet. Der wohl heikelste Punkt in dem neuen Legislativpaket stellt die Zwangsausschreibung des Personennahverkehrs auf der Schiene dar. Schienenverkehrsdienste wie die S-Bahnen müssten damit ausgeschrieben werden und dürften dann nicht mehr automatisch von der öffentlichen Hand und ihren Unternehmen betrieben werden. Der Vorwurf von ExpertInnen, dass die vorgesehenen Zwangsausschreibungen vor allem auf Kosten der Beschäftigten zu niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen führen werden, findet in den Diskussionen bisher wenig Berücksichtigung. In der letzten Verkehrsausschusssitzung des Europäischen Parlaments gab es nun eine erste Anhörung zum 4. Eisenbahnpaket. Deutlich wurde dabei, dass bei vielen EU-Abgeordneten vor allem Wirtschaftsinteressen zählen, die Anliegen der Beschäftigten aber leider nur für einige wenige ein Thema waren.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Europäische Kommission überhaupt einen neuen Verordnungsvorschlag zur Öffnung des Marktes für inländische Schienenpersonenverkehrsdienste veröffentlicht hat. Denn die derzeit geltende Verordnung, die der öffentlichen Hand die Wahlfreiheit lässt, den Nahverkehr auf der Schiene selbst zu erbringen oder an Private auszuschreiben, ist erst seit drei Jahren in Kraft. Offensichtlich ist der Grund für den neuerlichen Vorstoß der Kommission aber darin zu suchen, dass sich die EU-BeamtInnen mit dem bereits damals gemachten Vorschlag einer verpflichtenden Ausschreibung nicht durchsetzen konnten.

Sabine Trier, stellvertretende Generalsekretärin bei der Europäischen Transportarbeiterföderation (ETF), warnte, dass eine Zwangsausschreibung hauptsächlich auf Kosten der Beschäftigten gehen werde. Denn in fast allen Fällen wird dem Billigstbieter der Zuschlag erteilt, so Trier. Die Kosten für den Betrieb unterscheiden sich hauptsächlich bei den Personalkosten, während die meisten anderen Kostenfaktoren fix sind. Unternehmen, die bereits seit Jahren erfahrenes und damit auch teureres Personal beschäftigen, werden damit gegenüber Betrieben das Nachsehen haben, die einfach neues Personal zu entsprechend günstigen Konditionen anstellen. Insbesondere ältere Beschäftigte werden dadurch benachteiligt und haben durch den von der Europäischen Kommission beabsichtigten künstlichen Wettbewerb damit auch in dieser Branche geringere Beschäftigungschancen. Das steht im Übrigen im Widerspruch zum Kommissionsziel selbst, Arbeitnehmer so lange wie möglich in Beschäftigung zu halten.

Dieses Problem könnte man umgehen, indem der neue Betreiber verpflichtet wird das Personal zu den bisherigen Bedingungen zu übernehmen. Genau das ist aber nicht vorgesehen. Standards bezüglich des Personals können laut Kommission in die Ausschreibung integriert werden, müssen es jedoch nicht. Ganz anders sieht es im Übrigen beim rollenden Material aus: Bekommt ein privates Unternehmen nach dem Auslaufen des Vertrags für den Betrieb einer Strecke nicht mehr den Zuschlag, soll der Staat das Restwertrisiko für die Züge (das rollende Material) übernehmen müssen – damit bleibt im schlimmsten Fall die öffentliche Hand beziehungsweise die SteuerzahlerInnen auf diesen Kosten des privaten Eisenbahnunternehmers sitzen. Das ist Liberalisierung à la Kommission: Gewinne werden privatisiert, Verluste verstaatlicht. Genau diesen Umstand spricht auch Sabine Trier in ihren Ausführungen an: Offensichtlich gehe es nur um Rosinenpicken, zudem werde es den „Wettbewerb“ nur auf profitablen Strecken geben. Periphere Regionen geraten in akute Gefahr künftig nicht mehr bedient zu werden, weil sie keinen Gewinn abwerfen, kritisiert die ETF-Generalsekretärin.

Eine andere Sichtweite zum Kommissionspaket hat der ebenfalls zur Anhörung eingeladene Vorsitzende der Westbahn, Erich Forster. Derzeit würden 80 % der Verkehrswege beziehungsweise 71 Millionen Kilometer direkt an die ÖBB vergeben, Ausschreibungen gebe es keine. Forster spricht sich klar für den Verordnungsvorschlag aus. Für Privatunternehmer seien derzeit jedoch auch insbesondere die Kostensprünge beim Infrastrukturbenutzungsentgelt eine Katastrophe, erklärt er.

Hört man sich die Ausführungen von Lord Tony Berkeley von der Rail Freight Group an, glaubt man der Schienenverkehr in Großbritannien könne mit einem Schlaraffenland gleichgesetzt werden. Die Privatisierung der Eisenbahn im Vereinigten Königreich sei erfolgreich, so habe der Frachtverkehr in Großbritannien um 60 % zugenommen, meint der Lord. Es brauche viele Unternehmen im Schienenverkehr, der Wettbewerb müsse gestärkt, Infrastruktur und Betrieb komplett getrennt werden. Die Schiene müsse gegenüber der Straße wettbewerbsfähig sein und das ginge nur mit Wettbewerb auf der Schiene.

Einige EU-Abgeordnete brachten den Lord aber wieder auf den Boden der Realität zurück: So meinte Jaromir Kohlicek von den Europäischen Linken, dass die Privatisierung in Großbritannien zum kompletten Zusammenbruch der Schiene geführt habe und man dort erst wieder von Null anfangen musste. Wirtschaftlich interessant sind laut Kohlicek die wenigsten Routen, zum Beispiel Wien – Linz, die meisten anderen Strecken seien für Private einfach nicht interessant, es werde hier einfach „Rosinenpickerei“ betrieben. Damit werde der öffentliche Verkehr gefährdet. Isabelle Durant von den belgischen Grünen sprach gar von apokalyptischen Zuständen, durch die die privatisierte britische Eisenbahn gegangen wäre. Darüber hinaus wären die Texte der Kommission tendenziös, eine Aufsplittung der Bahn wäre ein deutlicher Nachteil. Deutlich anders sieht das allerdings ihr Fraktionskollege aus Deutschland, Michael Cramer: Natürlich wäre er auch gegen Rosinenpickerei und Sozialdumping, aber im Frachtverkehr sehe man, wie viel Wachstum die Marktöffnung bringe, im Gegensatz zu einem geschlossenen Markt.

Einige konservative EU-Abgeordnete meinten in ihren Aussagen, dass die Beschäftigten unter den EU-Gesetzen nicht leiden würden. Alle außer den Gewerkschaften würden die Kommissionsvorschläge gut finden.

Eine andere Meinung vertritt aber der sozialdemokratische EU-Abgeordnete Said El Khadraoui. Ein Ansatz wäre notwendig, der nicht nur auf Gewinne abzielt, sondern der auch kleine Strecken, die Verträge des öffentlichen Dienstes und die über 700.000 Beschäftigten im Sektor berücksichtigt. Er bezweifelt, dass dieser Vorschlag ein ökonomisches Gleichgewicht bringt und sieht die Gefahr, dass mit dem Legislativvorschlag letztendlich öffentliche Monopole durch eine Oligopolstruktur ersetzt werden. Über die soziale Dimension steht laut El Khadraoui im Kommissionsvorschlag leider sehr wenig.

Bis 9. Juli sollen die Berichtsentwürfe zu den einzelnen Legislativvorschlägen aus dem 4. Eisenbahnpaket vorliegen. Obwohl die bisherigen 3 Eisenbahnpakete nur dafür gesorgt haben, dass der Schienenverkehr geschwächt wurde und die Eisenbahn Marktanteile gegenüber der Straße verlor, gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sich am Liberalisierungskurs bei der Schiene etwas ändert. Endgültige Klarheit über die Position der EU-Abgeordneten wird es erst mit der Abstimmung im Verkehrsausschuss geben. Sie ist für Ende November im Verkehrsausschuss und im Jänner 2014 im Plenum vorgesehen.