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ZurückDie EU-Kommission hat am 19. September 2022 ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt (SMEI) vorgestellt. Im Vordergrund steht dabei die Sicherung des freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs sowie die Sicherstellung der Verfügbarkeit von essenziellen Waren und Dienstleistungen im Falle zukünftiger Notfälle.
Die Corona-Pandemie hat die Verwundbarkeit moderner Lieferketten durch Produktionsstillstände und einseitige Grenzschließungen aufgezeigt. Besonders der anfängliche Mangel an Beatmungsgeräten und Gesundheitspersonal in einzelnen Mitgliedstaaten aufgrund von Ausfuhrkontrollen und Grenzschließungen ist dabei im kollektiven Gedächtnis geblieben und hat Licht auf strukturelle Beschaffungs- und Personalmängel geworfen. Um Waren- und Dienstleistungsengpässe in zukünftigen Krisenzeiten besser zu überbrücken, stellte die EU-Kommission nun ein neues Notfallinstrument für den Binnenmarkt vor. Es soll andere, bereits in Geltung stehende Notfallmaßnahmen der EU ergänzen.
Konkrete Ausgestaltung des Notfallinstruments
Der Vorschlag sieht die Einführung einer neuen und umfassenden Krisenreaktionsstruktur für den Binnenmarkt vor. Konkret handelt es sich dabei um einen mehrstufigen Plan, der je nach Risikoeinschätzung unterschiedliche Maßnahmen zur Folge hat. In einer ersten Phase, der Eventualfallplanung, können sowohl die EU-Kommission als auch die Mitgliedstaaten bereits in krisenfreien Zeiten Koordinierungs- und Kommunikationsnetze einrichten, um bestmöglich auf zukünftige Störungen zu reagieren. Der Überwachungsmodus, als zweite Phase, kann von der EU-Kommission im Falle von zu erwartenden Versorgungsunterbrechungen aktiviert werden. Dabei kommt es zu einer Überwachung der Lieferketten für Waren und Dienstleistungen von essenzieller Bedeutung. Außerdem werden strategische Reserven für derartige Waren aufgebaut bzw bereits bestehende Reserven erhöht. Im Falle einer Krise mit weitreichenden Auswirkungen auf den Binnenmarkt kann der Rat als letzte Phase den Notfallmodus aktivieren. Als Beispiele für derartige Auswirkungen werden die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten im Binnenmarkt oder erhebliche Unterbrechungen von für das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben unverzichtbaren Lieferketten genannt. In dieser Phase werden zur Sicherstellung des freien Verkehrs innerhalb der EU bestimmte Beschränkungen der Grundfreiheiten untersagt. Auf Ersuchen der Mitgliedstaaten kann die EU-Kommission in dieser Phase auch die Beschaffung relevanter Waren und Dienstleistungen einfacher als bisher möglich übernehmen.
Binnenmarktinstrument darf Streikrecht nicht gefährden
Aus Arbeitnehmer:innensicht ist der Vorschlag der EU-Kommission jedoch mit einem entscheidenden Mangel behaftet. Bereits im Vorfeld der Vorstellung des Notfallinstruments hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) auf das Fehlen einer Klausel zum Schutz des Streikrechts im Kommissionsvorschlag hingewiesen. Der EGB äußert die Befürchtung, dass durch den neuen Vorschlag die bestehende Verordnung über das Funktionieren des Binnenmarktes, in der das Streikrecht ausdrücklich geschützt wird, aufgehoben werden würde. Damit würde die rechtliche Garantie für die Gewährleistung des Streikrechts in den Mitgliedstaaten fehlen, was unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeitnehmer:innen und ihre Vertreter:innen zur Folge haben kann. Auch AK-Präsidentin Renate Anderl warnte deshalb vor einer solchen Gesetzeslücke: „Im schlimmsten Fall könnte ein Streik als Krise gewertet werden, die die Versorgungssicherheit oder den freien Personenverkehr gefährdet und mit Verweis auf die Verordnung niedergeschlagen werden. Das widerspricht grundlegend der Menschenrechtskonvention sowie der EU-Grundrechtecharta“. Ganz generell ist der Vorschlag der EU-Kommission aus diesem Grund als problematisch anzusehen. Binnenmarktfreiheiten könnten über andere Politikfelder wie Arbeitsrecht, Konsument:innenschutz oder Klimapolitik gestellt werden, wenn diese als Beschränkungen des freien Marktes angesehen werden. Auf die Kritik des EGB reagierend nahm die Kommission nun zumindest einen Verweis auf das Recht auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen auf – allerdings nur in den unverbindlichen Erwägungsgründen und nicht im eigentlichen Rechtstext. Daher schließt sich die AK auch weiterhin der Forderung des EGB nach Aufnahme einer expliziten Klausel, durch welche das Bekenntnis zu Gewerkschaften und dem Recht auf Streiks in der Verordnung rechtlich verankert wird, an.
Rolle der Sozialpartner unklar
Darüber hinaus gibt es nach ersten Einschätzungen noch weitere änderungsbedürftige Punkte. So ist die Rolle der Sozialpartner im Zusammenhang mit den einzelnen Notfallmaßnahmen unklar, obwohl deren Mitwirkung gerade dann essenziell ist, wenn es darum geht, Personalengpässe zu verhindern und Konsens zwischen dem betroffenen Personal und den Unternehmen herzustellen. Diesbezüglich bräuchte es eine klare Definition der Rolle der Sozialpartner. Auch im Bereich des Arbeitnehmer:innenschutzes ist die Einbindung von Gewerkschaften, Arbeitnehmer:innenvertretungen und Unternehmen wesentlich.
Weiterführende Informationen:
AK Wien: AK Anderl warnt - „EU-Kommission darf Streikrecht nicht infrage stellen!“
Europäischer Gewerkschaftsbund: Right to strike at risk in new EU law (Nur in Englisch)
Europäischer Gewerkschaftsbund: SMEI - Right to strike still not protected (Nur in Englisch)